Zahnmediziner und Kassen sprechen von einer «neuen Volkskrankheit»: Bis zu 10 Prozent aller Schweizer Schulkinder sollen von Kreidezähnen betroffen sein; manche Quellen nennen noch höhere Quoten. Die deutsche «Barmer Ersatzkasse», die Untersuchungen zum Thema durchführen liess, spricht davon, dass von den zwölfjährigen Kindern in Deutschland schon jedes dritte unter Kreidezähnen leide.
Autorin: Claudia Rawer
Kreidezähne haben einen deutlich weicheren Zahnschmelz als gesunde Zähne. Zahnschmelz ist normalerweise sehr hart und widerstandsfähig. Diese äussere Schicht der Zahnkrone besteht aus Mineralsalzen wie Kalzium und Phosphat sowie aus Spurenelementen wie Magnesium und Fluorid. Zahnschmelz ist die härteste Substanz, die der menschliche Körper bildet, und zugleich elastisch. Dies ermöglicht uns das Kauen auch harter Nahrung und schützt den gesamten Zahn.
Bei Kreidezähnen sind die Entwicklung des Zahnschmelzes und seine Zusammensetzung gestört, die Zähne werden ungenügend mineralisiert. Meist sind die zweiten Zähne betroffen, die sich mit etwa sechs Jahren bilden. Im Alter von etwa zwölf Jahren ist der Durchbruch der bleibenden 28 Zähne abgeschlossen.
Werden die bleibenden Backenzähne (Molaren) und Schneidezähne (Inzisiven) schlecht mineralisiert, entstehen die Kreidezähne. Man nennt die Erkrankung daher auch «Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation», kurz MIH («hypo», griechisch, bedeutet «unter, darunter», medizinisch auch «Unterfunktion».) Milchzähne sind viel seltener von einer Hypomineralisation betroffen, aber auch so früh kann die Zahnschmelzstörung schon auftreten; dann bezeichnet man sie als Milchmolaren-Hypomineralisation oder MMH.
In der Regel werden Kreidezähne mit den ersten bleibenden Zähnen sichtbar, obwohl die Erkrankung schon entsteht, bevor der Zahn durchgebrochen ist. Kreidezähne haben an den schlecht mineralisierten Stellen oft trübweisse Flecken oder gelblich-bräunliche Verfärbungen.
Die Oberfläche der Zähne ist rau und oft porös, der Zahnschmelz weich und manchmal brüchig. Schon beim normalen Kauen kann Zahnschmelz abplatzen.
Klagt ein Kind über Schmerzen beim Essen oder beim Zähneputzen, ist das ein Alarmzeichen: Wärme, Kälte und die mechanische Belastung beim Putzen lösen Schmerzen an den empfindlichen Zähnchen aus.
Wissenschaftlich beschrieben wurden «Kreidezähne» zum ersten Mal im Jahr 1987. Sechzehn Jahre später bekam die Erkrankung den unhandlichen Namen Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH). Doch vermutlich existiert sie schon sehr lange, wurde aber nicht als eigenständiges Syndrom erkannt. Vielmehr dürfte sie häufig als Karies eingestuft und behandelt worden sein (zumal Kreidezähne tatsächlich anfälliger für Karies sind). Die Zunahme der Diagnosen könnte also zumindest zum Teil auf den stärkeren Bekanntheitsgrad und eine erhöhte Aufmerksamkeit bei (Kinder-)Zahnärztinnen zurückzuführen sein. Doch das allein erklärt den Anstieg der Fallzahlen nicht.
In der Frage liegt bereits das Problem. Denn die Ursachen für die Zahnerkrankung sind nicht bekannt. Dabei spielt mit, dass die Entwicklung der Schneide- und der vorderen Backenzähne bereits im achten Schwangerschaftsmonat beginnt, also bevor die Kinder zur Welt kommen. Sie dauert etwa bis zum Ende des vierten Lebensjahrs. Sichtbar wird die Fehlentwicklung aber erst Jahre später.
Die Mineralisierungsstörung des Zahnschmelzes wird schon seit mehr als 30 Jahren wissenschaftlich untersucht. Dennoch hat sich bislang keine eindeutige Ursache finden lassen; man weiss nicht einmal, welche Mineralien dem Schmelz fehlen.
Es werden mehrere Kandidaten für die Entstehung der Entwicklungsstörung diskutiert, die sich bislang durch Beobachtungen und Studien (meist mit kleinen Fallzahlen) identifizieren liessen.
Dazu zählen:
Das fehlende Wissen führt dazu, dass es für die MIH keine Prävention gibt und die Behandlung der betroffenen Kinder schwierig ist. Erschwerend kommt hinzu, dass Datenanalysen bislang ebenfalls kaum handfeste Ergebnisse lieferten. Das Verteilungsmuster in den Ländern (anhand von zahnärztlichen Unterlagen analysiert) ist so divers, dass sich keine Rückschlüsse daraus ziehen lassen. Dagegen ist recht deutlich, dass Kinder aus allen Einkommensschichten gleichermassen betroffen sind.
Prof. Katrin Bekes, seit 2015 an der Medizinischen Universität Wien tätig und Fachbereichsleiterin Kinderzahnheilkunde der Universitätszahnklinik Wien, die auch ein Buch über die MIH verfasst hat, geht davon aus, dass es nicht eine einzige Ursache für die Erkrankung gebe. Vielmehr sei vermutlich ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich. Sie plädiert für «klinische Studien, prospektive Studien, von der Schwangerschaft bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr des Kindes, um bei einer Mineralisationsstörung klarer auf mögliche Ursachen schliessen zu können.»
Bislang allerdings konnte keine der oben aufgeführten vermutlichen Ursachen bewiesen oder endgültig ausgeschlossen werden. Roland Frankenberger, Professor für Zahnerhaltung am Universitätsklinikum Giessen und Marburg, äusserte sich 2018 gegenüber der Zeitschrift «Spektrum» ganz offen: «Sich auf einen der diskutierten Faktoren zu versteifen, wäre Kaffeesatzleserei.»
Viele Experten suchen nach der Ursache innerhalb des Zeitraums ab etwa 2000. Da man Kreidezähne heute so viel häufiger sehe als früher, müsse sich in diesen 20 Jahren etwas geändert haben.
Das könnte für die «Bisphenol-A-These» sprechen, denn der Weichmacherstoff (BPA) ist so allgegenwärtig, dass er inzwischen bei fast allen Menschen im Blut oder im Urin nachweisbar ist. Bisphenol A wird für die Herstellung des Kunststoffs Polycarbonat und von Epoxidharzen verwendet. Zwar ist die hormonaktive Chemikalie in Trinkflaschen für Babys in der EU schon seit 2011 verboten (in der Schweiz seit 2017), und in Thermopapieren seit 2020. Doch wird der Stoff weiterhin in Flaschen, Lebensmittelbehältern und -verpackungen, Innenbeschichtungen von Getränke- und Konservendosen, CDs und DVDs, medizinischen Geräten, Spielzeug und Smartphones eingesetzt. Doch der parallele Anstieg der BPA-Belastung und der Häufigkeit von MIH könnte Zufall sein. Wissenschaftliche Belege gibt es jedenfalls bisher nicht. Und natürlich kommen auch andere Stoffe als MIH-Verursacher infrage, deren Verwendung in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat.
Prof. Katrin Bekes sieht im Praxisalltag «MIH gehäuft bei Kindern, die in den kritischen Phasen der Schmelzbildung Infekte hatten und/oder ein Antibiotikum bekommen haben». Eine der grössten und aktuellsten Untersuchungen (2021) stellte als zentrales Ergebnis kurz und bündig fest: «Die Verordnung von Antibiotika steht in einem erkennbaren Zusammenhang mit dem Auftreten von MIH.»
Zwar bekommen nicht alle Kinder, denen in diesem kritischen Zeitraum ein Antibiotikum verordnet wurde, Kreidezähne. Doch ist ein relevanter Zusammenhang erkennbar, insbesondere eine grössere MIH-Häufigkeit bei Kindern mit Atemwegserkrankungen, die mit Antibiotika behandelt wurden, und auch bei seltener verordneten Kombinationsantibiotika gegen Harnwegsinfekte. Ein Zusammenhang ist aber noch kein Ursachenbeweis, und so werden auch hier dringend klinische Studien angemahnt.
Auf jeden Fall das, was in der Schweiz ohnehin schon sehr üblich ist: Ihre Kinder bereits von klein auf an eine gewissenhafte Mund- und Zahnhygiene gewöhnen. Schweizer Kinder sind Weltmeister im Zähneputzen, und nirgendwo wurde Karies so weit zurückgedrängt wie hier. Doch setzen Zucker und Säuren (z.B. in Säften oder in Modegetränken wie «Red Bull» oder «Ice Tea») auch im Zahnputz-Musterland dem empfindlichen Zahnschmelz zu. Keinesfalls sollte man Kinder an Fruchtsäfte in der Nuckelflasche gewöhnen. Und auch das richtige Zähneputzen – mit geeigneten Bürsten und nicht zu heftig – sowie die Pflege des Zahnfleisches wollen gelernt sein.
Für Kreidezähne gibt es, wie gesagt, keine Vorbeugung, dennoch ist die richtige Zahnhygiene gerade hier unabdingbar: Poröser Zahnschmelz ist viel anfälliger für Karies als sich normal entwickelnde Zähne. Kinder, die beim Zähneputzen Schmerzen haben, was bei MIH sehr häufig ist, drücken sich auch gerne einmal vor der Prozedur. Kontrolle – durch die -Eltern und die Kinderzahnärztin – ist daher sehr wichtig.
Zahnarztbesuche sind teuer – trotzdem raten Fachleute, bereits die Milchbackenzähne im Alter von zwei bis drei Jahren prüfen zu lassen. In jedem Fall sollte mit dem Beginn des Zahnwechsels, etwa zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr, eine professionelle Überprüfung auf die typischen weisslichen bis gelb-bräunlichen Flecken auf den Kauflächen und an den Seiten der Zähne stattfinden.
Je früher Anzeichen für eine MIH (oder sogar eine Milchmolaren-Hypomineralisation MMH) festgestellt werden, desto eher können die Schäden an den Zähnen in Grenzen gehalten werden. Dem Kind bleiben Schmerzen und schwere Schäden im Erwachsenenleben eher erspart. Ist der Zahn noch nicht schwer geschädigt, kann er in leichteren Fällen beispielsweise mit einer Kunststoffschicht versiegelt werden. In schwereren Fällen können Füllungen oder Kronen den Zahn stabilisieren und seine Funktion wiederherstellen. Eltern und betroffene Kinder sollten sich in jedem Fall individuell von einem Experten beraten lassen.