An Vitamin D wird emsig geforscht, auch im Zusammenhang mit dem Demenz-Risiko. Daneben können sich Beziehungen zu Hirnnerven und Blutdruckwerten als ebenso interessant herausstellen.
Autorin Andrea Pauli, 11/16
Die Natur ist schon clever. Sonnenstrahlen kurbeln im menschlichen Körper die Produktion von Glückshormonen an. Was man als Trick deuten könnte, den Mensch nach draussen ans Licht zu locken. Denn durch die Einwirkung von Sonnenlicht (UVB-Strahlung) wird in der Haut Vitamin D gebildet. Und das ist unentbehrlich – unter anderem, weil es die Aufnahme von Kalzium und Phosphat im Darm fördert und eine wichtige Rolle in der Knochen- und Zahnbildung spielt. Die Crux: Zwischen November und Mai reicht in Mitteleuropa die Sonnenintensität nicht aus, um genügend Vitamin D in der Haut zu bilden.
Da 90 Prozent des menschlichen Vitamin-D-Bedarfs durch körpereigene Produktion gedeckt und lediglich zehn Prozent durch Ernährung geliefert werden, kann das (nicht nur) im Winter auf einen Mangel hinauslaufen. Vitamin-D-Mangel wiederum wird von Forschern und Ärzten mit einer Reihe von Erkrankungen in Verbindung gebracht, besonders im Alter.
Eine internationale Studie unter Leitung des Demenz-Experten Dr. David Llewellyn von der Universität Exeter (GB) gibt Hinweise darauf, dass unter Umständen auch unser Gehirn unter einem Mangel an Vitamin D leiden könnte. Das Llewellyn-Team untersuchte 1658 erwachsene Amerikaner über 65 Jahre, die zu Beginn der Studie («Cardiovascular Health Study») selbstständig laufen konnten, weder unter Demenz noch Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder den Folgen eines Schlaganfalls litten. Sechs Jahre lang wurden die Teilnehmer begleitet. 171 Personen entwickelten eine Demenz, darunter waren 102 Fälle von Alzheimer. Bei ihnen wurde ein eklatant niedriger Vitamin-D-Spiegel festgestellt. Hängt die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, also davon ab, wie viel des Sonnenvitamins unser Körper gespeichert hat? Vorangegangene Studien hatten bereits angedeutet, dass ein Vitamin-D-Mangel mit verringerten kognitiven Fähigkeiten in Zusammenhang gebracht werden kann, also mit einer Verminderung von Lernvermögen, Gedächtnisleistung und Wahrnehmung.
Zu Beginn der Llewellyn-Studie wurde den Teilnehmern Blut zur Bestimmung des Vitamin-D-Spiegels entnommen. Diejenigen, deren Blut nur geringe Mengen Vitamin D aufwies, waren später deutlich häufiger von Demenz betroffen. Bei einem leichten bis mittelschweren Vitamin-D-Defizit lag das Risiko, an Demenz zu erkranken, 53 Prozent höher als bei Personen mit ausreichenden Konzentrationen. Für Patienten mit schwerem Mangel war die Gefahr sogar um 125 Prozent erhöht.
Ganz ähnlich das Bild bei den an Alzheimer erkrankten Personen: Bei einem moderaten Vitamin-D-Mangel war das Risiko um 69 Prozent, bei einem schweren um 122 Prozent erhöht.
Das hat selbst die Wissenschaftler überrascht: «Der Zusammenhang war doppelt so stark wie wir erwartet haben», erklärte Dr. David Llewellyn im Fachblatt «Neurology». Einschränkend muss man festhalten, dass es sich hier um eine Beobachtungsstudie handelt, die lediglich einen Zusammenhang zwischen dem Vitamin-Mangel und dem Krankheitsrisiko nachgewiesen hat. Dass Vitamin D tatsächlich das Demenzrisiko beeinflusst, ist damit noch nicht bewiesen. Auch wenn eine starke Korrelation bestehen blieb, nachdem die Wissenschaftler bestimmte Faktoren wie Alter, Geschlecht und Rauchverhalten herausgerechnet hatten. Auf der Spur von Vitamin D ist auch Dr. Dieter Breil, stellvertretender Chefarzt am Felix-Platter-Spital Basel, das unter Prof. Reto W. Kressig an mehreren grossen klinischen Demenz-Studien (u.a. DO HEALTH) beteiligt ist. «Vitamin D ist eines der wichtigsten und interessantesten Vitamine», erklärt Breil. Spannend ist aus seiner Sicht, «dass es Vitamin-D-Rezeptoren in der Muskulatur, am Knochen und im Hirn gibt». Letzteres könnte eine Brücke zum Schutz vor Demenz sein.
«In der Hippocampus-Region des Gehirns findet die Transformation vom Kurzzeit- zum Langzeitgedächtnis statt. Dort sind auch Vitamin-D-Rezeptoren lokalisiert, die unter anderem das Wachstum der Nervenzellen regulieren», so Dr. Breil. Der Hippocampus ist ein Bestandteil des Gehirns und eine zentrale Schaltstelle des limbischen Systems – jener Funktionseinheit, die u.a. der Verarbeitung von Gefühlen dient.
In der Forschung sei nachgewiesen worden, so Dr. Breil, dass Vitamin D das Immunsystem stärke und die Aktivität von Fresszellen (Makrophagen) aktiviere. Sie spielen eine wesentliche Rolle bei der Sofortabwehr des Körpers von Bakterien und bei Abräumvorgängen untergegangener, alternder oder tumoröser Zellen.
Die Fresszellen könnten eine wichtige Rolle im Kampf gegen Demenz einnehmen. Zellversuche zeigen, dass sie den Abbau der Amyloid-Plaques fördern, welche sich im Hirn von an Alzheimer Erkrankten anlagern. Diese «Plaques» sind winzige Klümpchen aus Bruchstücken eines speziellen Eiweisses (dem Amyloid), die sich ausserhalb der Nervenzellen bilden und gehen auf eine Fehlfunktion des Stoffwechsels zurück.
Plaques lagern sich bei zahlreichen Patienten in der Wand kleinerer Blutgefässe ab. Als Folge verschlechtert sich die Durchlässigkeit dieser zarten Adern. Das zieht eine Störung der Sauerstoff- und Energieversorgung in der betroffenen Hirnregion nach sich. Die Eiweissablagerungen breiten sich im Gehirn aus und erfassen immer weitere Bereiche der Grosshirnrinde (dem Sitz unseres Bewusstseins) und Teile des Hippocampus, wo wir Erinnerungen speichern. Die daraus resultierende Symptomatik ist ein immer lückenhafteres Kurzzeitgedächtnis und die abnehmende
Fähigkeit, sich zu konzentrieren und zu orientieren.
Ein Zusammenhang wird auch zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz vermutet. Da könnte Vitamin D «andocken»: Ein solider Spiegel des Sonnenvitamins im Blut wirkt anscheinend günstig auf Blutdruck und Herzinfarktrisiko. Dies legen epidemiologische und kleine klinische Studien nahe, so die Expertengruppe «Vitamin D» der Eidgenössischen Ernährungskommission.
Ob mit systematischer Vitamin-D-Ergänzung Demenz aufgehalten werden kann, weiss bis dato niemand. Dr. Breil sieht die Llewellyn-Studie durchaus kritisch, auch aus Erfahrung im täglichen medizinischen Umfeld: «Mangelernährte Personen haben im Eintrittslabor oft einen sehr tiefen Vitamin-D-Spiegel, doch sie zeigen noch vieles mehr an Symptomen.»
Ob Vitamin-D-Mangel ursächlich für demente Zustände ist oder ob die Demenz bzw. andere Krankheitsbilder diesen Mangel auslösen, darüber kann die Forschung noch keine belegbaren Aussagen treffen. «Vitamin D wird das Alzheimer-Problem nicht alleine lösen», schätzt Dr. Breil die Lage ein.
Gespannt warten internationale Wissenschaftler darum, was die zwei aktuell laufenden, grossen klinischen Studien (DO HEALTH in Europa und VITAL in den USA) 2017 an neuen Erkenntnissen liefern werden. In der Zwischenzeit kann es nicht schaden, den Vitamin-D-Spiegel vom Arzt prüfen zu lassen. Nicht nur bei älteren Menschen – auch Kinder und Jugendliche, die kaum noch draussen aktiv sind, zeigen mitunter einen Vitamin-D-Mangel. Wer Bescheid weiss, kann vorsorgen.
Sonnenlicht produziert an einem Tag 10 000 bis 40 000 Internationale Einheiten (IE) Vitamin D im menschlichen Körper. Durch die natürliche Bildung kann es nicht zu einer Überdosierung kommen, denn der Körper vermindert die Aufnahme von selbst. Mittels Präparaten hingegen ist eine Überdosierung möglich («Hypervitaminose D»), wenn man sie über einen längeren Zeitraum einnimmt. Eine Folge wäre, dass sich dadurch Kalzium in den Blutgefässen und Nieren ablagert, was zu Nierensteinen und Nierenversagen führen kann.
unter 50: Vitamin-D-Mangel
25 – 49: Unterversorgung
unter 25: schwerer Mangel
(Quelle: Bundesamt für Gesundheit)
Laut Schweizerischer Alzheimervereinigung sind aktuell 119 000 Menschen an Demenz erkrankt. Es wird geschätzt, dass acht Prozent der über 65-Jährigen und mehr als 30 Prozent der über 90-Jährigen betroffen sind. Bis 2050 wird jede achte Person über 65 Jahre in der Schweiz an Demenz erkrankt sein, sofern keine Fortschritte bei Prävention und Heilung gemacht werden. In Deutschland leben gegenwärtig fast 1,6 Millionen Demenzkranke; zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Jahr für Jahr treten etwa 300 000 Neuerkrankungen
auf.
Aufgrund der Datenlage zu Calcidiol-Blutserumkonzentrationen in der Schweizer Bevölkerung und in angrenzenden Ländern ist davon auszugehen, dass rund 50 Prozent der Bevölkerung eine Konzentration von weniger als 50 nmol / l aufweisen – also zu wenig Vitamin D.
Die Expertengruppe «Vitamin D» der Eidgenössischen Ernährungskommission empfiehlt aufgrund zahlreicher Studien einen Zielwert von über 75 nmol / l und eine Vitamin D-Einnahme von 800 IE pro Tag – wohlgemerkt zur Risikoreduktion von Stürzen und Hüftfrakturen und zur Stabilisierung des Gleichgewichts bei älteren Menschen ab 65 Jahren.
Zur Prävention eines Vitamin-D-Mangels im Winter werden für Erwachsene bis zum 59. Lebensjahr 600 IE/Tag Zufuhr empfohlen. Dr. Breil rät sogar zu 1000 IE im Winter, «denn dann haben weit über 50 Prozent der Bevölkerung einen zünftigen Vitamin-D Mangel».
Um sich ein aussagekräftiges Bild vom Vitamin-D-Spiegel eines Menschen zu machen, misst man im Blutserum das Calcidiol, chemischer Name 25-Hydroxy-Vitamin-D3, abgekürzt 25(OH) D3. Dabei handelt es sich, vereinfacht gesagt,
um die Speicherform des Vitamin D. Die mittelbis längerfristige Versorgung des menschlichen Organismus mit Vitamin D lässt sich so am zuverlässigsten bewerten.
Üblicherweise wird der 25(OH)D-Wert in Nanomol pro Liter Blut (nmol/l) angegeben. Manche Labors errechnen den Wert in Nanogramm pro Milliliter (ng/ml).
Zur Umrechnung eines Testergebnisses von ng /ml in einen Wert der Masseinheit nmol/l ist der Wert ng/ml mit 2,5 zu multiplizieren.
Will man den nmol/l-Wert in Nanogramm umrechnen, so ist durch 2,5 zu dividieren.