Wie man mit einer speziellen Shiatsu-Technik gezielt die gesunde Entwicklung von Säuglingen fördern kann.
Autorin: Angelika Eder, 04/20
Schluckauf, Blähungen, Schlaflosigkeit: Ganz gleich, welche Beschwerden Säuglinge auch haben, ihnen lässt sich mit speziellen «Glücksgriffen» japanischen Ursprungs oft Erleichterung verschaffen. Die Griffe sind, wie die Erfahrung zeigt, nicht nur hilfreich und der Entwicklung grundsätzlich dienlich, sie kommen zugleich dem ausgeprägten Bedürfnis der Winzlinge nach Nähe und Berührung entgegen.
Entwickelt wurde das moderne Baby-Shiatsu (jap. «Shi»: Finger, «Atsu»: Druck) von der Kinderphysiotherapeutin Karin Kalbantner-Wernicke und deren Ehemann, dem Allgemeinmediziner Dr. Thomas Wernicke. Die beiden hatten sich schon vor Jahrzehnten sowohl für Japan als auch für das dortige Energiekonzept begeistert. Es basiert auf der Vorstellung der Traditionellen Chinesischen Medizin, dass unsere Lebensenergie (Qi) in Meridianen, also Energiekanälen, durch den Körper fliesst, die sich wiederum über bestimmte Punkte auf der Haut stimulieren lassen. Strömt das Qi ungehemmt, geht es uns gut. Staut es sich infolge von Belastungen, bekommen wir Befindlichkeits- oder Entwicklungsprobleme. Die wiederum erfordern laut der ganzheitlichen fernöstlichen Vorstellung die Stärkung des gesamten Lebensenergieflusses.
Einem solch systemischen Ansatz widmet sich die – lange auf reine Symptombekämpfung reduzierte – westliche Medizin erst ganz allmählich. Den prinzipiellen Forderungen unserer Schulmedizin nach wissenschaftlichen Belegen der Wirkungsweise von Baby-Shiatsu können Kalbantner und Wernicke zwar nicht nachkommen. Ihr jahrzehntelanger Erfolg in der Behandlung der Kleinen inklusive der Familienmitglieder aller Altersgruppen spricht allerdings für sich.
Die Urform von Shiatsu entstand in Japan und stammt in der heutigen Form vor allem von Tokujiro Namikoshi (1905–2000), der auf Hokkaido ein Institut für seine Behandlungsform gegründet hatte. Diese um Aspekte westlicher Medizin bereicherte Methode wurde Mitte des 20. Jahrhunderts offiziell in Japan anerkannt.
Als Kalbantner und Wernicke dort die manuellen Fähigkeiten erlernten, beschränkten sich Lehrer meist darauf, die von ihren Ahnen übernommenen Griffe vorzuführen. Erklärungen zur Wirkungsweise der Techniken blieben in der Regel aus. Ein Umstand, der das Ehepaar mit Forschergeist nicht zufriedenstellte. Um also genau diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, stellte es eigene praktische Untersuchungen an. Es verknüpfte das «östliche Verständnis der energetischen Entwicklung der Meridiane mit der westlichen Theorie kindlicher Entwicklung». Das liege nahe, da die motorische, sensorische, soziale, emotionale Entwicklung sowie die Entfaltung der Energieleitbahnen parallel zueinander ablaufen.
So entstand ihr erweitertes Baby-Shiatsu, das die beiden Deutschen in Japan ebenso lehren wie in ihrem Heimatland, in der Schweiz und in Österreich. In der Schweiz stellte die St. Elisabeth Universität am Standort Ebikon/Luzern* vor acht Jahren bereits das erste Fachhochschulzertifikat für die Baby-Shiatsu-Ausbildung aus, das alle zwei Jahre neu beantragt werden muss. Die Kurse des deutschen Ehepaars an der «Aceki»-Akademie für berufliche Weiterbildung im südhessischen Hochheim-Massenheim sind zertifiziert durch das ACE Bremen in Kooperation mit dem Gesundheits-Campus der St.Elisabeth Universität. Darin werden unter anderem Physiotherapeuten zum «Baby-Shiatsu-Praktiker» ausgebildet.
In Deutschland fehlt der Therapeutin zufolge leider ein klar definiertes Lehrkonzept. So werde die Fingerdruck-Massage in der Öffentlichkeit noch viel zu oft in der «esoterischen Ecke» angesiedelt. Diesen Umstand bezeichnet Karin Kalbantner auch deshalb als problematisch, weil er Eltern möglicherweise auf die Wohlfühlmassage verzichten lasse.
Dabei sei die Methode leicht erlernbar, praktisch überall und ohne Hilfsmittel anzuwenden. Das Einzige, was man dazu brauche, sei ein wenig Zeit, warme Hände und eine dicke Decke oder Matte. Die Kleinsten werden meist auf dem Schoss «gedrückt», sofern es die Techniken erlauben. Am besten führe man Shiatsu stets zur gleichen Tageszeit durch, wenn das Kind satt und frisch gewickelt sei.
Winzlinge reagieren besonders gut auf den leichten Druck und das Stimulieren der noch nicht ausgereiften Energiebahnen. Diesbezüglich fasst die Spezialistin die «Glücksgriff»-Möglichkeiten auf Basis der Verquickung von Pädiatrie-, Anatomie- und Physiologie-Erkenntnissen folgendermassen zusammen: «Wie geht ein Mensch durchs Leben? Wie widerstandsfähig ist er? Wie erlebt er Gefühle, durchlebt er Erfolge und überwindet er Hindernisse und Niederlagen? Darauf haben gerade die ersten anderthalb Jahre seines Lebens einen entscheidenden Einfluss. Baby-Shiatsu unterstützt in dieser prägenden Anfangsphase des Menschen die gesunde Entwicklung der kindlichen Potenziale.»Grundvoraussetzung für die Effizienz der Glücksgriffe ist die Akzeptanz des «energetischen Entwicklungsmodells»: Danach sollte sich jede einzelne Entwicklungsebene so entfalten können, dass die nächste gut darauf aufbauen kann. Konkret heisst das beispielsweise, dass es – entgegen oft anders-lautender Erklärungen – besser ist, wenn ein Kind vor dem Laufen erst einmal krabbelt. Deshalb gelte es grundsätzlich, das Kind in dem zu stärken, was es selbst gerade ansteuere, und eben nicht gleich darüber hinaus zu fordern. Dazu zitieren die zertifizierten Baby-Versteher das Sprichwort «Gras, an dem man zieht, wächst auch nicht schneller!» und ermutigen, Gelassenheit und Zuversicht zu entwickeln.
Um nun die Glücksgriffe bedarfsgemäss einzusetzen und angemessen auszuführen, muss man die Besonderheiten der Energieleitbahnen des Säuglings berücksichtigen. Da sie noch nicht entfaltet sind, werden sie anders definiert als im Meridianmodell der Akupunktur. Eng miteinander verknüpft, bestehen sie nach der Definition von Kalbantner und Wernicke aus drei sogenannten Familien:
Zur Unterstützung der jeweiligen Meridianfamilie und damit unterschiedlicher Entwicklungsstufen gibt es folglich drei Behandlungspositionen: die Rückenlage für das Finden der Mitte und Wahrnehmen der eigenen Grenzen, auf dem Bauch für das ökonomische Aufrichten und In-Bewegung-Kommen sowie auf der Seite für die Rotation und Flexibilität.
Für Einsteiger erläutert Kalbantner die Behandlungsmethode am Beispiel der Verbindungsbahn zwischen Mund und Hand.
Drückt man bestimmte Punkte an der Hand, lassen sich unter anderem das Schlucken oder die Zungenbewegung beeinflussen.
Gegen Trinkfaulheit (während des Stillens) und für Ausgeglichenheit: Den Punkt in der Mitte der Handinnenfläche, der den einprägsamen Namen «Palast der Nervosität» trägt, mit einem Daumen zirkeln, an-schliessend kurz halten und dann die Handinnenfläche mit beiden Daumen ausstreichen, bevor man sich der anderen Hand widmet.
Für guten Schlaf: Das Baby flach auf den Rücken legen und mit Daumen und Zeigefinger die Punkte rechts und links der Nasenwurzel drücken. Mit der anderen Hand einige Minuten im Uhrzeigersinn über den Unterbauch streichen.
Zur Anregung der inneren Organe und Stärkung des Immunsystems: Jeden Babyfinger von oben und unten mit Daumen und Zeigefinger, beginnend am Gelenk bis zur Spitze, kurz und leicht drücken. Die Haut zwischen den Fingern ist ebenfalls zu behandeln.
Sowohl regulierend gegen Unruhe als auch aufmunternd für müde Babys ist es, bei den auf der Seite liegenden Kleinen mit zwei Fingerspitzen zwei- bis dreimal vom Schambein nach oben zu streichen – und zwar bis zur Unterlippe. Und anschliessend eben-so oft mit leichtem Druck vom Steissbein bis zum Nacken zu gleiten und das über Kopf und Nase bis zur Oberlippe fortsetzen. Diese Anwendung kann nebenbei positiv auf Schlafprobleme oder Bauchschmerzen wirken.
Zur Anregung der Verdauung widmet man sich dem Punkt «Göttlicher Gleichmut», der wie folgt zu finden ist: Mit dem Daumen von unten nach oben seitlich – zwischen Schien- und Wadenbein – fahren und rund einen Fingerbreit vor der Kniescheibe anhalten. Dort den Punkt circa eine Minute drücken, während man den Strampelbewegungen des Babys folgt. Das soll Blähungen lösen und die Gelassenheit fördern. Die Möglichkeiten, mit sanftem Fingerdruck die Entwicklung starker Babys zu fördern, sind vielfältig. Er-wachsene werden übrigens beim Baby-Shiatsu prin-zipiell mit einbezogen. Wenn man Kinder fördern wolle, müsse man die Eltern stärken, zumal sich de-ren Qi auch auf das Kleine auswirke, so Therapeutin Kalbantner. Dabei komme besonders zum Tragen, «dass man nach der Geburt seines Babys die eigene Babyzeit wieder erlebt.» Im Wissen um diese Zusam-menhänge stellt die Expertin in ihren Eltern- und Grosselternkursen den Erwachsenen stets frei, die ihnen vorgeführten Griffe erst einmal an einer Puppe durchzuführen. Sie will nicht bevormunden, sondern behutsam anleiten, zum Wohlergehen der Kleinen und der Grossen. Selbstverständlich werden auch die Geschwisterkinder mit einbezogen, denn Baby-Shiatsu ist in seinem Anwendungskonzept ganzheitlich und folgerichtig in der Berücksichtigung aller Familienmitglieder ebenso.
So überzeugend die Anleitungen von Karin Kalbantner und Thomas Wernicke sind und so sehr sie motivieren, diese Glücksgriffe auch als Grossmutter/-vater zu erlernen oder aufzufrischen: Es gibt durchaus Grenzen bei der japanischen Fingerdruckmassage. Diese benennen die beiden auch ganz klar: Ein krankes Kind muss vom Kinderarzt behandelt werden. Dieser sollte entscheiden, ob die Techniken des Baby-Shiatsu bei der jeweiligen Erkrankung angewendet werden dürfen. Nach einer Impfung ist grundsätzlich ein paar Tage auszusetzen.
Überdies sende das Baby selbst bei der «Drück mich – aber richtig!»-Anwendung klare Signale, die ein Beenden erfordern: Es meidet den Blickkontakt, versucht Berührungen durch Wegziehen der Arme und Beine zu verhindern, beginnt zu quengeln oder zu weinen, versteift sich, wird blass, bekommt einen roten Kopf oder Schwitzhände und -füsse oder einen Schluckauf.
*Die St. Elisabeth Universität ist eine staatlich anerkannte Hochschule mit Sitz in Bratislava, die ihre Bildungsmöglichkeiten für das deutschsprachige Europa im Gesundheits-Campus in Ebikon/Luzern anbietet.