Die Psychokardiologie befasst sich mit der wechselseitigen Beeinflussung vonHerzerkrankungen und psychischen Konflikten. Die Forschung bestätigt die Wichtigkeit und Wirksamkeit dieses integrativen Ansatzes.
Text: Adrian Zeller, 10/19
Erna Weber (Name geändert) wurde oft zugleich bewundert und beneidet. Stets gut gelaunt und voller Energie stand sie vor den Teilnehmerinnen ihrer Kurse. Sie unterrichtete unter anderem Jazzdance und Fitness. Ihre Begeisterung für Bewegung wirkte auf viele Menschen ansteckend. Völlig unerwartet meldeten sich bei der damals 62-Jährigen Anzeichen eines Herzinfarktes. Zu akzeptieren, dass dies ausgerechnet ihr als sportlicher Frau passierte, fiel ihr sehr schwer. So schwer, dass bei ihr Symptome einer Depression diagnostiziert wurden. «Mein Hausarzt meinte damals, ich sei in einem Trauerprozess um die frühere Erna, die an ihre körperlichen Grenzen gestossen sei.» Er verschrieb ihr stimmungsaufhellende Medikamente. Nach einer längeren Reha hat die mehrfache Grossmutter ihre Fitnesskurse nicht wieder aufgenommen. Für sie begann das Rentenalter, das sie mit einem ehrenamtlichen Engagement in der Seniorenbetreuung sowie mit regelmässigen Chorproben und -aufritten ausfüllt.
Die Erfahrungen von Erna Weber stehen für viele Betroffene. Ärzte rechnen mit rund 40 Prozent Depressionserkrankungen nach einem Infarkt. Die Ursachen dafür sind komplex und individuell unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Betroffenen, dass das völlig unerwartete Versagen ihres Herzens und die Todesnähe tiefe Verunsicherung auslösen. Sie erfahren auf schockierende Weise, wie ihr Körper sie im Stich lässt. Sie werden von einem Moment auf den anderen aus ihrem gewohnten Alltag herausgerissen, fühlen sich Ärzten und Pflegepersonen ausgeliefert. Nach einem solch einschneidenden und erschütternden Erlebnis müssen die Betroffenen wieder Tritt fassen – nicht allen gelingt dies auf Anhieb. Wenn tagelang gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Verlust von Interessen, Antriebsschwäche, Angstzustände, Schuldgefühle, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen, markante Gewichtsveränderungen sowie sozialer Rückzug auftreten, sollte an eine Depressionserkrankung gedacht werden, die fachkundig behandelt werden muss.
Krankhafte Verstimmungen können Folgeerkrankungen eines Herzleidens sein, aber auch bei dessen Entstehung eine wesentliche Rolle spielen: Wie neuere Untersuchungen gezeigt haben, begünstigen Depressionen das Risiko für Herzerkrankungen. Vier von zehn Patienten mit ausgeprägter Herzschwäche zeigen auch Anzeichen einer krankhaften Verstimmung. Ein ausschlaggebender Faktor ist dabei die sogenannte Herzratenvariabilität, die während einer Depression erheblich eingeschränkt ist. Dadurch kann das Organ sein aktuell gefordertes Leistungsvermögen weniger gut steigern bzw. absenken. Das Herz kommt kaum zur erholsamen Ruhe, der Organismus befindet sich permanent im Alarmzustand. In der Folge können mit der Zeit die Wände der Blutgefässe geschädigt werden.
Für gutes Funktionieren benötigt das Herz beständiges Training. Menschen in einer Depression reduzieren aufgrund des verringerten Antriebs ihre körperlichen Aktivitäten, zudem ernähren sie sich oft unausgewogen. Beides ist der Herzgesundheit nicht zuträglich. Etwa 15 Prozent der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind auf Depressionen zurückzuführen. Wie Studien gezeigt haben, verringern psychotherapeutische Behandlungen das Sterblichkeitsrisiko infolge Herzkrankheiten um rund die Hälfte. Durch die psychologische Begleitung werden persönliche Belastungen reduziert und in der Folge weniger langfristig schädigende Stresshormone ausgeschüttet.
Das Herz kann auch durch dauerhafte Überforderung in der Familie oder am Arbeitsplatz seine Belastungsgrenzen erreichen; das Risiko für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall steigt um 40 Prozent. Intensive Gefühle von Ärger, Frustration und Ausweglosigkeit begünstigen Herzinfarkte. Durch sie werden gefässverengende Hormone ausgeschüttet. Bei einem bereits geschädigten Organ kann dadurch die kritische Schwelle zu einem Herzinfarkt oder anderen Störungen überschritten werden.
Ähnlich wie depressive Verstimmungen wirken sich auch Angsterkrankungen ungünstig auf das Herz aus. Panikattacken lassen den Puls und den Blutdruck immer wieder massiv in die Höhen schnellen, das Herz kommt wenig zur Ruhe. Mögliche Folge sind unter anderem Herzrhythmusstörungen sowie Vorhofflimmern.
Sogenannte psychosoziale Faktoren haben einen lange unterschätzten Einfluss auf die Herztätigkeit. Zahlreiche Untersuchungen erhellen die wissenschaftlichen Details zu diesen Zusammenhängen, die der Volksmund und die Dichter schon lange ahnten. Die enge Verbindung zwischen Emotionen und Herz drückt sich in zahlreichen gängigen Sprachbildern aus: «das Herz ist schwer», «das Herz ist von Freude erfüllt». Es kann auch von Sehnsucht oder von Heimweh bewegt sein. Personen, die konsequent ihren individuellen Weg gehen wollen, «folgen ihrem Herzen», mutige Menschen handeln ihrerseits «beherzt». Und manchen Menschen «rutscht das Herz in die Hose». Man kann ein Kind oder auch ein Haustier «in sein Herz schliessen».
Bei Liebeskummer kann «das Herz schwer werden» oder gar «brechen». Ärzte kennen die Diagnose Broken-Heart-Syndrom, auch Stress-Kardiomyopathie oder Tako-Tsubo-Kardiomyopathie genannt. In Japan wurde diese Krankheit 1991 erstmals beschrieben. Da sich der Herzmuskel während eines entsprechenden Anfalls in einer charakteristischen Weise verformt, wurde er nach Tonkrügen benannt, die in Japan zum Tintenfischfang benutzt werden, sie werden als «Tako-Tsubo» bezeichnet.
Diese Art von Herzproblemen kann durch den Verlust eines geliebten Menschen oder auch eines Haustieres ausgelöst werden. Alarmsignale sind ähnlich wie bei anderen Herzstörungen: das Gefühl von Enge in der Brust sowie Brustschmerzen, die in Arm und Rücken und eventuell in die Schulter ausstrahlen. Übelkeit und Schmerzen im Oberbauch sind weitere mögliche Anzeichen. Die körperliche Ursache ist eine intensive Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin, die von dem erschütternden Verlusterlebnis ausgelöst wird.
Fachleute schätzen, dass rund zwei Prozent der Patienten, die infolge Herzproblemen eine Notaufnahme aufsuchen, von dieser Krankheit betroffen sind. In der Regel klingen die Beschwerden nach einigen Tagen wieder ab. Sie sind allerdings nicht zu unterschätzen, durch sie kann es zu Schäden im Herzgewebe kommen, und sie können im Extremfall auch zum Tod führen.
Zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussen die Herztätigkeit sehr unmittelbar: Nahestehende Menschen liegen einem am Herzen, mit Angehörigen sucht man Körperkontakt. Berührungen mit vertrauten Personen werden als angenehm empfunden, durch sie wird das sogenannte Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet; es wirkt beruhigend, entspannend und angstdämpfend. Unter seinem Einfluss sinken Blutdruck und Pulsfrequenz. Dagegen werden durch als unangenehm empfundene Berührungen die Stresshormone Cortisol und Noradrenalin freigesetzt, die den Herzschlag ankurbeln.
Auch intensive freudige Erregung wirkt sich unmittelbar auf das Herz aus – so sehr, dass es bei einem bereits vorbelasteten Organ etwa zu ernsthaften Störungen kommen kann. So wurden beispielweise während der Fussballeuropameisterschaft 2006 in Deutschland gemäss einer Studie dreimal mehr Männer und doppelt so viele Frauen wie an normalen Tagen wegen Herzproblemen in die Krankenhäuser eingeliefert.
Ärger und Frustrationen im Übermass können das Ernährungsverhalten ungünstig beeinflussen, zudem können dadurch der Alkohol- und der Nikotinkonsum sehr ungesunde Ausmasse erreichen; beides lässt das Risiko von Herzproblemen ansteigen. Dauerstress und Ärger entstehen oft aus Überforderung. Zu den besonders wichtigen vorbeugenden Faktoren gehören die Fähigkeit, seine Belastungsgrenzen durch Neinsagen-Können besser zu schützen und für mehr Entspannung zu sorgen.
Wirkungsvolle Möglichkeiten dazu sind Kurse in MBSR–Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR bedeutet: Mindfulness Based Stress Reduction) sowie in regelmässigen moderaten sportlichen Aktivitäten, die stressabbauend wirken. Auch stabile zwischenmenschliche Beziehungen sind für die Herzgesundheit wichtig, sie wirken sich gemäss Untersuchungen insgesamt positiv auf Körper und Psyche aus.
Die einschneidende Erfahrung einer Herzattacke oder eines Herzinfarktes wirkt bei allen Patienten verunsichernd, aber nicht zwingend führt sie zu anhaltender Niedergeschlagenheit, wie bei der eingangs erwähnten Erna Weber. Viele Betroffene benötigen einige Wochen und Monate, um ihren plötzlichen gesundheitlichen Einbruch psychisch zu verarbeiten und wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Oft sind die kardiologischen Vorfälle ein Anlass, die inneren Haltungen und Lebensziele zu überdenken und dadurch einen gesünderen, herzschonenderen Lebensstil zu entwickeln. Eine Selbsthilfegruppe oder eine Gesprächsgruppe unter fachkundiger Leitung kann bei dieser Auseinandersetzung wertvolle Impulse liefern.
Auch Menschen nach einer Bypass-Operation oder einer Herzverpflanzung können durch fachpsychologische Begleitung wieder neues Vertrauen in sich und ihren Körper gewinnen. Gelegentlich werden auch die Angehörigen in die Betreuung miteinbezogen, denn die Auswirkungen eines Herzzwischenfalls sowie die anschliessende Rehabilitation können auch für das Umfeld Konsequenzen haben.
Um weiteren gefährlichen Herzzwischenfällen vorzubeugen, ist eine Bewältigung der ständigen Spannungsauslöser entscheidend. Gleichzeitig sollte ein herzschonender Lebensstil gepflegt werden. Dazu gehören: das Rauchen aufzugeben, mindestens 30 Minuten moderate Bewegung pro Tag zu pflegen, Übergewicht zu reduzieren sowie die Ernährung anzupassen. Täglich sollten dazu Früchte und Gemüse auf den Tisch kommen, Fett, Süssigkeiten und Alkohol dürfen nur in geringen Mengen konsumiert werden. Zwei Mal pro Woche sollte Fisch auf dem Speise-plan stehen.