Das Anbringen von Kinesiotapes ist längst keine exotische Behandlungsmethode mehr, sondern Standard in vielen Physiotherapie- und Osteopathiepraxen. Auch Orthopäden, die nicht-invasive Behandlungsmethoden präferieren, nutzen die elastischen Klebebänder. Immer wieder allerdings wird den Kinesiotapes eine Wirkung abgesprochen. Was ist also davon halten?
Autorin: Andrea Pauli
Man sollte erst einmal das Prinzip der Tapes verstehen. «Es kann davon ausgegangen werden, dass das auf die Haut aufgeklebte Tape die darunterliegenden Gewebeschichten bewegt, Schmerzsensoren beeinflusst, Muskelkontraktionen sowie Lymphfluss und Gelenkfunktion stimuliert», erläutert Sascha Seifert. «Zudem werden die Nervenzellen angeregt und die Durchblutung in dem betreffenden Bereich gefördert.» Der Vorsitzende der International Taping Association (ITA) ist Physiotherapeut, Osteopath, leitet ein ambulantes Sportrehabilitationszentrum in Kassel und publiziert regelmässig Fachaufsätze zum Einsatz der Kinesiotapes. Aus seiner Sicht hat sich das Kinesiotape ganz klar bewährt: «Verfahren, die bei Profisportlern funktionieren und da seit 40 Jahren eingesetzt werden, haben meistens auch eine Wirkung.»
Selbstredend muss man genau wissen, was man tut. «Grundsätzlich geht es bei uns darum, das Tape nicht irgendwo draufzukleben, wo der Schmerz ist. Oft liegt die Schmerzursache nicht an der Stelle, an der der Schmerz auftritt, d.h., ein kausaler Zusammenhang zwischen Schmerzstelle und Schmerzursache ist nicht immer gegeben», so Seifert. «Um z.B. Rückenschmerzen zu behandeln, kann es sinnvoll sein, dass man den Bauch mit einem Kinesiotape bearbeitet, weil die Bauchmuskeln den Rücken entlasten. Wenn man aber nur nach Schema F klebt, dann funktioniert das in der Regel nicht vernünftig – weil man dann immer nur den Schmerzpunkt klebt», erläutert der Therapeut. Kinesiotaping aber könne mehr: «Es kann ein Körperschema verändern, d.h. wir können tatsächlich die Bewegung verbessern, Schmerzen lindern und die Muskeln stärken.»
Unabdingbar für einen sinnvollen Einsatz der Tapes ist eine gezielte Untersuchung des Patienten vorab und zwar mittels eines dreiteiligen Prinzips. «Dafür setzen wir Beweglichkeitstests (Screeningtests), Muskelkrafttests und das Körperballonschema ein, um die Ursache von Beschwerden zu finden.»
Beim Beweglichkeitstest werden verschiedene Haltungen abgerufen, z.B. die Beinstreckung in Rückenlage. Der Muskelkrafttest ist eine klassische Untersuchung aus der Orthopädie. «Wir machen das nach dem Prinzip von Kendall, das nennt sich Muskelfunktionsprüfung (MFP). Ziel ist, dass der isolierte Muskel immer einen Kraftwert von 5 hat. Wenn der Kraftwert unter 5 ist, kann es sinnvoll sein, ein Kinesiotape zu kleben, um den Muskel zu verbessern.» Das Körperballonschema ist ein Konzept, das ursprünglich aus Japan kommt. «Der Kinesiotape-Begründer Kenzo Kase stellte fest, dass Einziehungen oder Ausdehnungen der Haut – und Kinesiotaping arbeitet ja ausschliesslich auf der Haut – immer auch eine Einschränkung der Muskulatur und Beweglichkeit zur Folge haben können. Darum suchen wir nach Einziehungen, also Narben, Verklebungen oder faszialen Distorsionen (Verdrehungen) bzw. nach Ausstülpungen, also lokalen Ödemen, Hernien (Brüchen) oder geschwollenen Gelenken», erläutert Sascha Seifert. Wenn man eine solche funktionelle Untersuchung erhält, kann man davon ausgehen, dass der betreffende Therapeut fundiert arbeitet. «Alle, die von der International Taping Association ausgebildet wurden, sind mit diesen Prinzipien vertraut.»
Seriös ausgebildete Kinesiotape-Therapeuten beziehen sich zudem auf diverse Basiskonzepte, welche die Wirkmechanismen zu erklären versuchen. Diese Konzepte stehen in Relation und Wechselwirkung zueinander und werden durch das Tape beeinflusst. Wichtig sind folgende:
Kinesiotaping kommt auch bei der viszeralen (die Eingeweide betreffende) Therapie zum Einsatz; die Behandlung wurde 2013 von der ITA entwickelt. «Sinnvoll ist das überall dort, wo Beschwerden aufgrund der Störung der Viszeralorgane auftauchen.» Habe man z.B. gewisse Verwachsungen im Bauchraum, so könne man die mit dem Tape behandeln. Auch generelle Absenkungen der Eingeweide werden mittels Kinesiotape behandelt. «Sehr gute Anwendungsbeobachtungen gibt es bei der Behandlung einer Absenkung der Blase mit verbundener Inkontinenz, bei der Behandlung von Menstruationsbeschwerden und bei der Unterstützung zur Rückbildung des Uterus mittels Kinesiotape», so Sascha Seiferts Erfahrung.
Beim Kinesiotaping nutzt man verschiedene Anlagetechniken und -methoden, z.B. die Muskel-, Faszien und Ligamenttechnik (Tape wird mit maximalem Zug auf die Haut aufgebracht) bzw. Spacetechnik (gleich wie Ligament, aber mit einer anderen Vordehnung). «Bei diesen Anwendungen sehen wir die meisten Effekte», berichtet der Therapeut. «Rund 70 Prozent aller Anlagen sind Muskeltechniken, die mit null Zug ausgeführt werden. Der häufigste Fehler, der gemacht wird, ist, dass die Leute zu viel Zug auf das Tape geben und gerade dadurch die Sensorik verschlechtern», warnt Seifert. Denn ein Kernsatz sei: «Das Tape wirkt mehr über die Sensorik als über die Mechanik.»
Denn noch immer ist es so, dass dem Kinesiotaping die Wirkung abgesprochen wird. Grund: keine ausreichende Evidenz, sprich: keine überzeugenden Studienergebnisse. Wobei das grundsätzlich eine Frage des Studiendesigns ist, welches dahintersteht.
Die Crux: Man zieht für den Vergleich von Behandlungsmethoden Standards heran, die eigentlich für Medikamententests gedacht sind. «Pharma-Studiendesigns lassen sich aber nicht einfach auf physiotherapeutische oder osteopathische Behandlungen übertragen», gibt Sascha Seifert zu bedenken. «Deshalb fallen wirklich viele Therapiemethoden, z.B. alle manuellen Therapien, bei solchen Studien durch bzw. zeigen mangelnde Evidenz. Man müsste folglich das Studiendesign ganz andersmachen.» Mit dieser Meinung steht Seifert nicht alleine da, darauf weisen führende Komplementärmediziner schon lange hin. Immerhin: Eine aktuelle Metaanalyse (quantitative Kombination der Ergebnisse mehrerer Studien) von 2019 kommt zu dem Schluss, dass Kinesiotaping die Intensität myofaszialer (die Muskeln und deren bindegewebsartige Hüllen einschliesslich Sehnen und Bänder betreffenden) Schmerzen deutlich reduzieren kann.
Eines steht fest: Schaden kann Kinesiotape nicht. «Grundsätzlich kann man nicht viel falsch machen», stellt Sascha Seifert fest. «Denn wenn ein Tape Schmerzen verursacht oder Bewegungen einschränkt, nimmt man es einfach ab. Tapen sei grundsätzlich eine nebenwirkungsfreie, ungefährliche Methode. Die am besten von Profis angewendet werden sollte, könnte man ergänzen. Denn verfährt man nach der Dawos-Methode («da, wo's wehtut»), erzielt man nicht unbedingt gute Ergebnisse.
Nicht anwenden sollte man Kinesiotapes in folgenden Fällen: bei Tumoren aller Art, Herpesbläschen, geschwollenen Gelenken aufgrund Entzündung,offenen Wunden, Verbrennungen, unklaren Fieberzuständen, Thrombose und Krampfadern.
Aufpassen sollte man hinsichtlich der Qualität der Tapes. Untersuchungen von Ökotest ergaben 2016, dass manche Produkte Verbindungen enthielten, die Allergien oder auch Krebs auslösen können. Allergiker können auf den Acrylkleber wie auch auf Latex im Material reagieren. Mittlerweile sind Kinesiotapes erhältlich, die frei von Allergenen sind.