Was macht man, wenn einem dauernd die Hände und Füsse einschlafen? Oder wenn man selbst nicht einschlafen, geschweige denn durchschlafen kann? Wenn die Hüfte schmerzt, die Stimmung mies ist, der Darm träge oder diffuses Unwohlsein das Gemüt verdunkelt?
«Geh doch mal zum Osteopathen», meinte eine gute Freundin. Nun hatte ich glücklicherweise nicht alle oben beschriebenen Beschwerden, aber das mit den eingeschlafenen Händen traf auf mich zu. Mein Rücken war verspannt und genaugenommen meine Seele auch. «Osteopathie ist ein bisschen so wie Jazz», erklärte mir die Freundin weiter. «Feinfühlig, tastend, manchmal fordernd, manchmal harmonisch, und manchmal fühlt es sich auch schräg an.»
Als Liebhaberin schöner Töne war ich von dieser Heilmethode sofort angetan. Aber so wie es Jazz gibt, der nicht echter Jazz ist, sondern nur Geschrummel, wollte ich mich auch nicht in jedermanns Osteopathen-Hände begeben. Vor allen Dingen wollte ich erst einmal wissen, was das denn nun genau ist. Meine Freundin war in der Lage, mir das gut zu erklären, und eine Adresse hatte sie auch.
Autorin: Christine Weiner
Vor über 120 Jahren begründete der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) die Osteopathie – aus eigener Not heraus: Der Arzt musste machtlos mit ansehen, wie seine erste Frau und vier seiner Kinder erkrankten und starben.
Die Schulmedizin entwickelte sich zu jener Zeit zwar sprunghaft weiter, entfernte sich durch reine Symptombehandlung und Spezialisierung aber immer weiter von der ganzheitlichen Medizin. Still suchte nach einem neuen Verständnis von Gesundheit und Krankheit, dem menschlichen Körper und dem, was ihn heilen kann. Er sah diverse Krankheitsursachen in den Verlagerungen von Wirbeln, Verschiebungen im Skelett und auch im Muskelapparat.
Bis heute bilden seine Erkenntnisse die Grundlage der osteopathischen Medizin. Im Gesundheitswesen Grossbritanniens, Frankreichs und der USA nimmt die Osteopathie bereits seit Jahrzehnten einen festen Platz ein, den sie sich in der
Während dieser Zeit hat sich die Osteopathie ständig weiterentwickelt. Mittlerweile ist die Ausübung der osteopathischen Medizin zu einem selbstständigen Beruf geworden, der eine mehrjährige Ausbildung erfordert. Unter anderem benötigen Osteopathen beispielsweise sehr genaue Kenntnisse der Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers. Inzwischen erkennen etliche Schulmediziner (und Krankenkassen) die Osteopathie als Ergänzungs- oder alternative Behandlungsmöglichkeit an.
Osteopathie ist eine manuelle Form der Medizin. Der Osteopath arbeitet mit den Händen, seinem Gefühl, seinem Gehör, seinem Blick. Deswegen braucht er im Grunde für seine Arbeit nicht viel mehr als eine Liege und etwas Platz im Raum, damit der Patient oder Klient auf- und abgehen kann.
Der Osteopath beobachtet, tastet die Wirbelsäule ab, schaut, wie geschmeidig sich das Rückgrat biegt, hört dem Patienten zu. Die Schule der Osteopathie vermittelt in langer und intensiver Ausbildung besonders Krankengymnasten und Ärzten die kleinen und grossen Bewegungen des menschlichen Körpers. Mit den Händen lernt der Osteopath Bewegungseinschränkungen aufzuspüren und zu lösen.
Nicht immer meldet der Körper eine Einschränkung an der eigentlich betroffenen Stelle. Die Schmerzen liegen dann vielleicht im Bauchraum, obwohl die Ursache in einem Gelenk zu finden ist. Oder eine entzündete Drüse in der Achselhöhle wird durch eine blockierte Rippe ausgelöst.
Der Osteopath ertastet das Gewebe, spürt die verschiedenen Beweglichkeiten oder Spannungen. Diese intensive Untersuchung wird auch «Listening» oder «Ecoute» genannt.
Geübte Osteopathen erspüren bzw. erhören selbst die minimalsten Bewegungseinschränkungen im Körper und können diese interpretieren und Funktionsstörungen feststellen. Anschliessend verhilft der Osteopath der Struktur manuell zu ihrer ursprünglichen Form zurück. Stimmt diese, stimmen auch die Bewegungen wieder und der Körper gesundet von allein.
Die meisten Bewegungen laufen für uns unbewusst ab: Während man die Bewegungen an Muskeln, Sehnen und Gelenken meist gezielt ausführt, schlägt das Herz unwillkürlich, die Lungen bewegen sich im Atemrhythmus, und der Darm führt wellenförmige Bewegungen zur Verdauung aus.
Im osteopathischen Sinn können die Ursachen einer eingeschränkten Bewegung vielfältig sein. Eine Verstauchung oder Verrenkung kann zu einer bleibenden Bewegungseinschränkung führen, aber auch geheilte Entzündungen innerer Organe, Operationsnarben oder bestimmte Lebens- und Ernährungsgewohnheiten können die Beweglichkeit einschränken.
Nur wenn diese Systeme ohne Einschränkung funktionieren, wird ein harmonischer Bewegungsablauf möglich. Unfälle, Entzündungen, falsche Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten können diese Harmonie beeinträchtigen. Zysten am Eierstock könnten aus osteopathischer Sicht etwa Ischiasprobleme auslösen, blockierte Brustwirbel Herzprobleme, und eine gestörte Niere kann Rückenschmerzen verursachen.
Mit geschulten Händen ertasten Osteopathen deshalb Blockaden und Verhärtungen in Gelenken, Muskeln und Bindegewebe. Durch sanften Druck und Zug stellen sie eine neue Beweglichkeit her und helfen dem Körper, sich selbst zu helfen.
Gesundheit ist eine Art Gleichgewicht, das der Körper halten will. Das ist nicht so einfach, denn der Organismus ist ständig inneren und äusseren Einflüssen ausgesetzt, die ihn aus diesem Gleichgewicht bringen. Solange der Körper diese Balance halten kann, ist er gesund. Geht sie verloren, erkrankt er. Doch selbst dann gibt der Organismus nicht auf, sondern versucht, wieder gesund zu werden, also ein neues Gleichgewicht herzustellen.
Dabei helfen ihm seine Selbstheilungskräfte. Diese zeigen sich auf vielfältige Weise, etwa wenn Blut gerinnt, Blutkörperchen eine Entzündung abwehren, der Körper nach einer Viruserkrankung gegen die gleiche Erkrankung immun wird oder ein Knochen nach einem Bruch wieder zusammenwächst. Der Osteopath bahnt den Selbstheilungskräften ihren Weg.
Die Behandlung beginnt mit einem ausführlichen Gespräch zwischen Patient und Therapeut. Dabei werden die genaue Krankheitsgeschichte des Patienten, bestehende Beschwerden, Ernährungs- und andere Lebensgewohnheiten erfragt. Soweit vorhanden, sichtet der Osteopath fachärztliche Befunde wie Röntgenaufnahmen, Laborwerte usw. Nach dieser Bestandsaufnahme beginnt die Arbeit am Körper des Patienten.
Nach der Untersuchung der Körperhaltung und Beweglichkeit ertastet der Osteopath zunächst Bewegungseinschränkungen und Spannungen, die er mit speziell für die Osteopathie entwickelten Zug-, Druck- und Verschiebetechniken behandelt. Die natürliche Mobilität der blockierten Struktur wird so wieder hergestellt.
Eine osteopathische Behandlung dauert durchschnittlich 30 bis 45 Minuten. Jede neue Therapiesitzung wird individuell auf die Symptome des Patienten abgestimmt. Nach vier- bis sechsmaliger Behandlung sollte eine Besserung der Beschwerden erzielt worden sein.
Allgemein gilt: Jedes Gewebe kann osteopathisch behandelt werden. Dauer und Anzahl der Behandlungen richten sich nach dem jeweiligen Fall. Wann immer notwendig, sucht der Osteopath die Zusammenarbeit mit Fachärzten oder Therapeuten zum Wohle seines Patienten.
Osteopathie ist kein Allheilmittel. Ihre Grenzen liegen dort, wo die Selbstheilungskräfte nicht ausreichen, den Körper gesunden zu lassen. Schwere und akute Erkrankungen müssen oft erst einmal schulmedizinisch behandelt werden. Offene Wunden, Brüche, Verbrennungen und andere Verletzungen, bei denen Strukturen zu Schaden gekommen sind, müssen immer erst von einem Facharzt versorgt werden.
Ebenso gehören psychische und seelische Erkrankungen wie Depressionen nicht in die Hand eines Osteopathen. Er muss diese aber berücksichtigen, da die seelische Gesundheit sich auf die Körpergesundheit auswirkt (Psychosomatik). Das Gleiche gilt auch umgekehrt, denn körperliche Schmerzen können die seelische Lage beeinflussen.
Des Weiteren ist bei einer Infektion das Wiederherstellen von Bewegung zunächst oft nicht angezeigt. Die Betrachtung verschiedener Aspekte ist also notwendig, bevor der Osteopath seine Arbeit beginnt.
Ich hatte ihn also gefunden, «meinen» Osteopathen, hatte ein Anamnesegespräch geführt, meinen Körper gezeigt und mich dann auf die Liege gelegt.
Es wurde an mir gedrückt und gezogen, es knackte und eine grosse Erleichterung ging durch meinen Brustkorb. Gerade so, als hätte jemand ein Fenster aufgemacht und frische Luft würde mich durchfluten. Sofort fühlte ich mich beweglicher und irgendwie entstaut.
Ich schlief in dieser Nacht so tief und fest wie seit Jahren nicht mehr. Und für mich ist ganz klar: Ich gehe da wieder hin, denn ich spüre, dass es noch mehr Fenster in meinem Körper gibt, die endlich geöffnet werden wollen.