Depressionen kommen bei Männern ebenso häufig vor wie bei Frauen, werden aber seltener diagnostiziert und behandelt. Das liegt unter anderem daran, dass die Erkrankten oft nicht «weiblich-traurig», sondern «männlich-aggressiv» reagieren. Doch sie brauchen dringend Hilfe.
Autorin: Dr. Claudia Rawer
Als Andreas Weingart plötzlich ausrastete, staunten die Kollegen nicht schlecht. Der sonst eher ruhige Mann brüllte die völlig verschüchterte Mitarbeiterin an: So gehe das nicht weiter, ein Sauhaufen sei das hier, und wenn sie nicht bald spure, würde er sie persönlich zur Verantwortung ziehen. Kopfschütteln und gemurmelte Bemerkungen: Von dem immer korrekten Andreas hätte man ein so unerhörtes Verhalten nie erwartet.
Andreas’ Frau Carla hätte den Kollegen viel erzählen können. Zu Hause verhielt sich ihr Mann schon seit Wochen seltsam verändert. Er schimpfte über alles und jeden, bei jedem nichtigen Anlass brach er Streit mit ihr oder einem der Kinder vom Zaun.
Nichts konnte Carla ihm mehr recht machen – wenn er denn überhaupt nach Hause kam und sich nicht bis in den tiefen Abend hinein im Sportstudio austobte. Wenn sie – selten genug in letzter Zeit – Besuch hatten, verhielt er sich zwar meist so normal wie früher, doch kaum schloss sich die Tür hinter Freunden und Bekannten, zog er abwertend und gehässig über sie her.
Andreas Weingart, so wurde leider erst nach einer längeren Leidenszeit festgestellt, litt unter einer Depression. Eine Depression ist eine schwere seelische Erkrankung, die mit tiefer Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit einhergeht. Ein depressiver Mensch kann keine Freude mehr empfinden, keine Hoffnung, und er leidet oft schwer unter Schuldgefühlen, dem Gefühl, nichts wert und schon gar nicht liebenswert zu sein (s. a. GN 11/2007 und 12/2007).
Doch von all dem war bei Andreas Weingart wenig zu merken. Er ging mit seinem Zustand «typisch männlich» um: Die Anfänge der Erkrankung, so sagen Experten, zeigen sich bei Männern oft ganz anders als bei Frauen. Gereiztheit, Wutausbrüche, überkritisches Verhalten, die Tendenz, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, sich-in-die-Arbeit-stürzen, mehr rauchen und Alkohol trinken, Flucht in den Sport – das sind Anzeichen, die bei Männern tatsächlich auf eine Depression hinweisen können.
Ist die Depression erst voll ausgebrochen, sind die Symptome bei Frauen und Männern meist ähnlich. Doch die unterschiedlichen Verhaltensweisen zu Beginn machen ein Erkennen der Erkrankung schwierig. Dazu kommt, dass viele Männer nicht gerne über ihre Gesundheit und schon gar nicht über ihren Seelenzustand sprechen. Stephanie Krüger, Psychiaterin und Gender-Medizinerin in Berlin, sagt dazu: «Sie geben erst zu, dass es ihnen seelisch schlecht geht, wenn die Depression weit fortgeschritten ist.» Oft kämen sie mit einem Burnout in die Therapie, das sich dann als Depression entpuppe.
Männer, die eine Depression entwickeln, sind häufig in ihrer Geschlechterrolle sehr traditionell geprägt – es sind «harte» Männer, die sich selbst, aber auch der Familie und den Kollegen viel Leistung abverlangen. Anderen Menschen fühlen sie sich wenig verbunden, insbesondere zu anderen Männern pflegen sie kaum enge Beziehungen. Sie legen grossen Wert darauf, tadellos zu funktionieren, dadurch Wertschätzung zu erlangen und die Erwartungen anderer perfekt zu erfüllen.
Gefährdet ist dieses Selbstbild in Situationen, die eine belastende Veränderung mit sich bringen. Das kann in der Arbeitswelt sein: Eine Bewerbung oder Beförderung wird abgelehnt, eine Lohnerhöhung verweigert, ein anderer Mitarbeiter bevorzugt. Im Familienleben ist nicht selten die Geburt eines (ersten) Kindes mit Umstellungen, Belastungen und Rollenänderungen verbunden. Im mittleren Alter folgt häufig die Frage nach dem Lebenssinn: Das soll nun alles gewesen sein? Besonders gefährdet, depressiv zu werden, sind ältere Männer, vor allem alleinstehende und verwitwete.
Angesichts des Stereotyps vom starken, erfolgreichen Mann, der alles im Griff hat, fällt es depressiven Männern meist schwer, ihre Hilflosigkeit sich selbst und anderen einzugestehen. Eher versuchen sie, ihre Verletzungen zu verbergen, die vermeintliche Schwäche zu verheimlichen.
Dr. Michael Hettich, Depressionsexperte des Klinikums Wahrendorff: «Männer sagen nicht, dass sie traurig oder mutlos sind, das ist die Sprache der Frauen. Männer mit Depressionen sagen eher, dass sie zum Beispiel unter Druck stehen.»
Prof. Dr. Siegfried Kasper von der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie betont: «Männer haben ein reduziertes Krankheitsgefühl und projizieren ihre Probleme eher auf die Umwelt.» Erschwerend kommt hinzu: «Das soziale Stigma der Depression, das psychische Erkrankungen als Schwäche auslegt, macht es Männern zusätzlich schwer, in die Diagnose einzuwilligen.
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Die Umwelt reagiert auf die beschriebenen Verhaltensweisen meist mit Unverständnis, oft auch ängstlich und verunsichert. Wie konnte sich mein geliebter Mann, mein lieber Papi, mein guter Freund nur so verändern?
Auf Vorhaltungen reagiert der Betroffene erst recht aggressiv, Fragen beantwortet er nicht. Schnell kommt seine Umgebung zu dem Schluss, der Kranke könne doch anders sein, wenn er nur wolle, und nimmt die schwere seelische Erkrankung nicht ernst. Andreas Weingarts Schwiegervater forderte ihn erbost auf, sich doch endlich zusammenzureissen; seine Frau litt schweigend und konzentrierte sich darauf, die Kinder zu schützen, die Kollegen taten sein Verhalten achselzuckend ab.
Doch das ist das Tückische an dieser Erkrankung: Dem Depressiven mangelt es nicht am Wollen – er kann tatsächlich nicht. Erst wenn Angehörige und Freunde dies verstehen, können sie mit dem Betroffenen und seiner Erkrankung richtig umgehen.
Schmerz, Leere, Aussichtslosigkeit und Schuldgefühle verändern das Wesen eines an Depression erkrankten Menschen in einer Weise, die ein gesunder Mensch kaum nachvollziehen kann. Angehörige und Freunde stehen dem verständnislos gegenüber und leiden doch oft selbst erheblich unter der Erkrankung des anderen.
Einer der wichtigsten Schritte ist, sich selbst und dem Kranken fachliche Hilfe zu verschaffen. Wenden Sie sich an eine Selbsthilfegruppe für Angehörige in Ihrer Nähe. Ermutigen Sie den Depressiven, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben, erwarten Sie aber nicht, dass er dies sofort von sich aus in Angriff nimmt. Organisieren Sie notfalls den Arztbesuch selbst.
Sorgen Sie gut für sich. Je mehr Unterstützung Sie von Verwandten und Freunden für sich einholen, je eher Sie bei aller Zuneigung auch Distanz zum Depressiven wahren können, desto geringer ist die Gefahr, dass Sie selbst in den Sog des depressiven Denkens und Fühlens geraten und Ihre Partnerschaft und Ihre Familie in eine tiefe Krise stürzen.
Mit einem depressiven Menschen richtig umzugehen, ist schwierig. Er wird viele Ihrer Aussagen negativ interpretieren, nicht annehmen, Schuldgefühle entwickeln. Die tiefgehende Angst, verlassen zu werden, nicht liebenswert zu sein oder auch «verrückt» zu werden, hat ihn fest im Griff.
Das Beste, was Sie für ihn tun können, ist, trotz aller Schwierigkeiten bei ihm zu sein und zu bleiben. Zeigen Sie und sagen Sie dem anderen, dass Sie ihn mögen, gleich, wie oft er Ihre Worte in Zweifel zieht. Versuchen Sie Verständnis dafür zu zeigen, dass ein Depressiver keine positiven Gefühle zeigen kann und auch die sexuelle Lust verloren geht. Die Depression eines Menschen durchzustehen, der einem nahesteht, kostet viel Kraft, Verständnis, Geduld und Liebe.
Spielen Sie die depressive Not des andern nicht herunter; sagen Sie nicht: «Das ist alles halb so schlimm.» Beschönigen Sie nicht und vermeiden Sie Vergleiche und Floskeln wie: «Ja, jeder hat so seine schlechten Tage», «Anderen Menschen geht es noch viel schlechter als Dir», «Morgen sieht es sicher schon viel besser aus.»
Versuchen Sie nicht, den Kranken aufzumuntern («Schau mal, was für ein schöner Tage heute ist»). Das wird ihn noch tiefer in Verzweiflung stürzen, da ihm solche Sätze deutlich machen, dass er nicht fühlen kann wie ein «normaler» Mensch.
Appellieren Sie nicht an den Willen oder das Verantwortungsgefühl des Betroffenen («Reiss Dich doch einfach mal zusammen», «Denk doch mal an mich» [die Kinder, seine Mutter...]).
Vermeiden Sie alles, was die ohnehin überwältigenden Schuldgefühle eines depressiven Menschen noch verstärken könnte. Treffen Sie auf keinen Fall während einer Depression weitreichende Entscheidungen (z.B. Stellenwechsel, Umzug, Scheidung). Und nehmen Sie Selbstmordgedanken und -drohungen ernst: Gerade bei Männern ist die Suizidrate bei einer depressiven Erkrankung sehr hoch.
Wenn Sie mehr als drei Fragen mit Ja beantworten müssen, sollten Sie mit Ihrem Hausarzt sprechen.
... die, über mehrere Wochen beobachtet, auf eine Depression eines Mannes hindeuten können:
Wenn mehr als drei Aussagen auf den Betroffenen zutreffen, sollten Sie mit Ihrem Hausarzt darüber sprechen und um Unterstützung bitten.