Vergessen, vernachlässigt, verkümmert: Die Beckenbodenmuskulatur führt ein Schattendasein. Dabei ist sie ein Multitalent – wenn man sie richtig trainiert. Und diese Nachricht ist auch für Männer interessant.
Neulich im Training: Die Kursleiterin kommt auf den Beckenboden zu sprechen. Ein Teilnehmer wirft ein, was ihn das angehe, eine solche Muskulatur besässen seines Wissens nach doch nur Frauen.
Autorin: Vera Sohmer, 05.10
Was viele Männer nicht wissen: Auch sie haben Beckenbodenmuskeln. Und dass man bei ihnen von den Potenzmuskeln spricht, kommt nicht von ungefähr: Sie umschliessen den Penisansatz. Wer diese Muskeln trainiere, verbessere die Durchblutung des Schwellkörpers und damit die Erektion, sagen Experten.
Zweimal die Woche zehn Minuten trainieren reicht aus, den Beckenboden zu stärken – und eine bessere Wirkung zu erzielen als die blaue Potenzpille dies vermag.
Das wurde in Studien bestätigt. Laut der urologischen Uni-Klinik Köln hatten 80 Prozent der untersuchten Männer nach gezieltem und länger anhaltendem Training eine bessere Erektion. Nach Einnahme der Potenzpille stellte sich dieses Resultat bei 74 Prozent der Teilnehmer ein. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Wissenschaftler der Universität Bristol.
Mehr noch: «Hat der Mann den Beckenboden unter Kontrolle, kann er die Ejakulation hinauszögern, er hat ein besseres Stehvermögen», sagt Claudia Amherd, die das von ihr geleitete Basler Beckenbodenzentrum ins Leben gerufen hat. Sie bietet eine Trainingsmethode an, mit der Männer wie Frauen ihre Sexualität beeinflussen und ihr Lustempfinden steigern können.
Richtig trainiert, sei der Beckenboden nicht nur ein Kraftpaket, sondern auch geschmeidig und flexibel. Das mache ihn empfindsamer. Ist er hingegen verspannt, kann er beim Sex Beschwerden verursachen – eine der möglichen Ursachen für Vaginismus bei Frauen und Dauerschmerzen im Damm bei Männern.
«Bei einem schwachen Beckenboden haben Frauen oft Schwierigkeiten, einen Orgasmus zu erleben», erklärt Claudia Amherd weiter. Seien die Muskeln hingegen geschmeidig und kraftvoll, intensiviere sich das sexuelle Empfinden. Der Grund: Zwei schlanke Muskeln des Beckenbodens verlaufen über die Klitorisschenkel – jenen Teil des weiblichen Lustzentrums, der im Inneren des Körpers liegt.
Der Beckenboden ist ein Verbund von Muskeln und Bindegewebe, er bildet den unteren Abschluss des Torsos. Die Beckenbodenmuskulatur liegt in drei Schichten übereinander. Zentrum ist der Damm. Der Beckenboden der Frau hat drei Durchtrittsstellen: für die Harnröhre, die Scheide und den Darm. Dies macht ihn anfällig für Schwäche. Folgen können Organsenkungen und Inkontinenz sein.
Der männliche Beckenboden ist nur zweimal durchbrochen, von der Harnröhre und dem Darm. Bei Männern wird Beckenbodentraining immer populärer. Es wird unter anderem erfolgreich als Nachbehandlung bei Prostata-Operationen eingesetzt, wenn die Harnröhrenschliessmuskulatur nicht mehr genügend oder gar nicht mehr funktioniert.
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Doch üblicherweise ist vom Beckenboden nur dann die Rede, wenn es um Geburtsvorbereitung oder Rückbildungsgymnastik geht. Oder um Inkontinenz – um Auswirkungen oder Beschwerden aufgrund einer schwachen Muskulatur.
Und meist wird angenommen, derlei Probleme träfen nur ältere Frauen. Aber das ist falsch: Untrainiert erschlafft der Beckenboden bereits ab dem 25. Lebensjahr und lässt sowohl die Organe als auch das Bindegewebe vorzeitig altern, heisst es in einer Kursbeschreibung der Physiotherapeutin Alexa Braun-Schlüren aus Walchwil ZG.
Wie andere in der Cantienica®-Methode Ausgebildete, bietet sie – für Männer wie für Frauen – eine Trainingsmethode nach Benita Cantieni an. Die Liste der versprochenen Effekte ist lang: Eine trainierte Beckenbodenmuskulatur biete Schutz gegen Organ-erschlaffung, Blasenschwäche, Prostatavergrösserung, Inkontinenz, helfe gegen Rückenschmerzen, Beckenschiefstand, Fehlhaltungen aller Art. Und sei sogar ein probates Mittel gegen Hämorrhoiden und Lymphstau.
Und schöner werden wir offenbar auch, wenn wir den Beckenboden fleissig trainieren. Es gibt Anbieter, die einen knackigeren Po und straffere Bauchmuskeln versprechen.
Ist das nicht ein wenig übertrieben? Nein, sagt Claudia Amherd, dafür gebe es eine plausible Erklärung: Der Beckenboden ist vernetzt mit der Tiefenmuskulatur des Körpers. Sie sorgt für gute Haltung und ein insgesamt strammeres Erscheinungsbild.
Bei den meisten Menschen ist diese Muskulatur aber viel zu schwach. Trainiert man den Beckenboden, kommt dies automatisch auch der Tiefenmuskulatur zugute. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Wir gehen aufrechter durchs Leben.