Weltweit suchen Wissenschaftler nach Ursachen für den Alterungsprozess. Sie wollen die Lebensuhr zurückdrehen und das Altern besiegen.
Autor: Andrea Pauli, 09/20
Laut Vorhersage der Vereinten Nationen werden im Jahr 2050 etwa 3,4 Millionen Hundertjährige auf der Erde leben. Glücklich und gesund? Wenn es nach den internationalen Top-Wissenschaftlern geht, die derzeit dem Alterungsprozess auf der Spur sind, lautet die Antwort: ja. Wobei die Forscher längst schon Richtung 120 Lebensjahre und mehr denken. Alter, erst recht ein hohes bei stabiler Gesundheit, soll kein gütiges Schicksal mehr sein. Sondern ein Prozess, der sich geschickt steuern lässt.
Was haben sie, was anderen fehlt, was ist ihr «Geheimrezept»?, lautet seit Längerem die Frage, wenn es um fitte hochaltrige Menschen geht. Bereits 2005 machte Autor Dan Buettner in einem Artikel für die Zeitschrift «National Geografic» Langlebigkeitsregionen aus, sogenannte Blue Zones, in denen auffallend viele Hochbetagte zu Hause sind und sich eines munteren Daseins erfreuen. «Die sieben Geheimnisse der Hundertjährigen aus den Blue Zones» deckte Takumi Matsumura dann 2018 in seinem Buch «Gesund alt werden» auf.
So geheim sind die Faktoren indes auch wieder nicht: Pflanzenreiche und massvolle Ernährung, ständige und leichte körperliche Betätigung, Eingebundensein in eine soziale Gemeinschaft, täglich einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen sind einige der Grundpfeiler. Also in etwa das, wovon Alfred Vogel zeitlebens überzeugt war und worauf er in seinen Schriften und Vorträgen gerne Bezug nahm.
Wir werden geboren und wir sterben irgendwann: Diese Grundhaltung ist uns vertraut und sie ist gesellschaftlich verankert. Sie unterscheidet zwischen der Störung der normalen Funktion eines Organs, Körperteils oder des gesamten Organismus (= Krankheit) und dem Alterungsprozess.
Doch mit diesem Denken möchten Biogerontologen aufräumen und eine Zeitenwende einläuten. Sie verfolgen verschiedene Forschungsansätze. Ganz gelegen kommt ihnen dabei u.a. ein Verfahren des US-Forschers Steve Horvath, mit dem sich das biologische Alter ermitteln lässt, die sogenannte Horvath-Uhr. Das biologische Alter ist, vereinfacht gesagt, das wirkliche Alter des Menschen; in ihm spiegelt sich wider, dass wir alle unterschiedlich schnell altern. Horvath bestimmte chemische Veränderungen an den Erbmolekülen. Die Veränderungen an der DNA zeigen ein vom biologischen Alter abhängiges Muster, das sich nach einer Blutentnahme mithilfe von Analyse-Chips auslesen lässt. Interessant an diesem Verfahren ist, dass sich offenbar recht präzise voraussagen lässt, ob der Mensch in den nächsten Jahren ein Altersleiden entwickeln wird.
Erstmals die Lebensuhr zurückgestellt hat nach eigenem Bekunden der Biomediziner Gregory Fahy. Mithilfe einer Kombination bereits bekannter Wirkstoffe gelang es ihm, das biologische Lebensalter von neun Testpersonen um zweieinhalb Jahre «zurückzudrehen». Die Männer im Alter zwischen 51 und 65 Jahren erhielten ein Jahr lang das menschliche Wachstumshormon hGH, das Diabetes-Medikament Metformin und DHEA, eine sexualhormonähnliche Substanz. Die Substanzen zielen auf den Thymus. Die im Brustkorb liegende Drüse besitzt zahlreiche Immunzellen; hier trainiert das Immunsystem in der Jugend seine Abwehrzellen. Bei Erwachsenen verkümmert das Organ allmählich und der Vorrat an Immunzellen nimmt ständig ab – drastisch ab dem 60. Lebensjahr.
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«Ich halte Altern für eine Krankheit», schreibt Prof. David Sinclair (Harvard Medical School, Boston) in seinem 2019 erschienenen Buch «Das Ende des Alterns». «Diese Krankheit ist therapierbar.» Seine Strategie zielt darauf ab, «Langlebigkeitsgene» zu aktivieren und einem epigenetischen «Informationsverlust» entgegenzuwirken.
Sinclair befasst sich seit rund 25 Jahren mit den Ursachen von Alterungsprozessen. Er ist dabei den genetischen und epigenetischen Faktoren auf der Spur, die entscheidend für unseren Alterungsprozess sind: Welche Informationen stecken in unserer DNA, wie und ob werden sie stimuliert und aktiviert. Dabei machte Sinclair Entscheidendes für die Regulierung der Lebensdauer aus, z.B. Sirtuine. Das ist eine Gruppe von Enzymen, die in diversen Organismen vorkommen, in der Hefe wie im Menschen. Sirtuine bestimmen über die Lebensdauer: «Sie entfernen (schädliche) Acetyl- und Acylgruppen von Proteinen und geben ihnen Anweisung, die Zellen vor widrigen Umständen, Krankheiten und dem Tod zu schützen.» Sirtuine brauchen Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid, kurz: NAD+, um funktionieren und zellschützend wirken zu können. NAD+ ist in den Zellen an mehr als 500 chemischen Reaktionen beteiligt. «Beim Fasten oder durch Bewegung steigen Sirtuin- und NAD+-Spiegel, was vielleicht eine Erklärung dafür ist, warum diese Tätigkeiten gesund sind», schreibt Sinclair.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Methoden, mit denen das Alter bekämpft werden soll. So will man gealterte Zellen, die nicht absterben, dafür aber Stoffe ausschütten, welche chronische Entzündungen hervorrufen (seneszente Zellen), mit Senolytika abtöten. Dies sind Substanzen aus kleinen Molekülen; Sinclair nennt sie flapsig «Zombiekiller».
Schon lange auf dem Markt ist Rapamycin, ein Wirkstoff, der verhindert, dass nach einer Transplantation das fremde Organ abgestossen wird. Die Altersforscher fanden heraus, dass Rapamycin auch viele andere biologische Prozesse beeinflusst. So hemmt es den Proteinkomplex mTOR, welcher in Hungerphasen den Energieverbrauch der Zellen drosselt. An Würmern und Mäusen stellte man nach der Gabe von Rapamycin eine Verlängerung der Lebensspanne fest – diesen Effekt erhofft man sich nun auch beim Menschen.
Körperzellen durch die Regulierung von nur vier Genen («Yamanaka-Faktoren») in Stammzellen verwandeln und verjüngen; Telomere (die «Schutzkappen» am Ende eines jeden menschlichen Chromosoms) wiederherstellen, die sich im Laufe des Lebens offenbar verkürzen und ausfransen: Auch daran tüfteln Biomediziner, um zur Lebensverlängerung beizutragen.
Ist man also kurz davor, den «Jungbrunnen» zu finden? Mitnichten. Die Versuche funktionieren gerade mal erst für einzelne Zellen und Gewebe; bei Mäusen löst vieles noch Krebs aus. Es kann also noch Jahrzehnte dauern, bis tatsächlich «Anti-Alters-Medikamente» auf dem Markt sind. Gleichwohl fliessen unfassbare Summen von Wagniskapitalgebern in Firmen, Start-ups und Projekte, die an der Medizin der Zukunft tüfteln, wie Thomas Schulz in seinem Buch «Zukunftsmedizin» aufzeigt.
Neben den grossspurigen Unsterblichkeitsvisionären nehmen sich die sogenannten Healthspanners geradezu bescheiden aus: Forscher, denen an einer Verlängerung der gesunden Lebensphase im Alter gelegen ist bzw. der Verkürzung der Phase, die von Krankheiten bestimmt ist («Kompression der Morbidität»). Die niederländische Gerontologin Eline Slagboom (Leiden University Medical Center) plädiert dafür, sich die Jugendlichkeit durch die richtige Lebensführung zu bewahren. Ihr schwebt eine Art personalisierte Altersmedizin vor. Gemeinsam mit Kollegen identifzierte sie eine Kombination aus 14 Biomarkern im Blut, aus denen sich Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand und die Anfälligkeit für Krankheiten ziehen lassen. Diese blutbasierte Messung könnte die Grundlage dafür sein, alte Menschen ganz individuell zu einem förderlichen gesundheitlichen Verhalten anzuleiten.
Das Erbgut sollte in allen Zellen unseres Körpers eigentlich gleich sein. Doch Forschende vom Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg fanden heraus, dass das nicht stimmt. Sie untersuchten die Knochenmarkszellen von 19 Probanden unterschiedlichen Geschlechts und Alters und stellten fest, dass bei über 80 Prozent eine von 43 Blutstammzellen genetisch verändert war. Dabei waren Chromosomenstücke vertauscht, verkehrt herum eingebunden oder lagen in mehrfachen Kopien vor. Zwar nehmen diese Unterschiede im Lauf des Lebens naturgemäss zu, bei den Probanden waren sie aber unabhängig von Alter und Gesundheitszustand vorhanden. Bisher nahm man an, dass Genmutationen vor allem in Tumoren zu finden sind. Jetzt zeigt sich, dass selbst vermeintlich normale Zellen alle möglichen Genmutationen in sich tragen.