Wir werden immer älter – aber es ist verpönt, dem Alter entsprechend auszusehen. Entziehen wir uns diesem Diktat, fordern auch Experten. Denn echte Attraktivität habe nichts mit dem propagierten Schönheitsideal zu tun.
Jung aussehen um jeden Preis. Schlank bleiben, koste es, was es wolle. Da stehen Mütter vor den Kleider - schränken ihrer Töchter und versuchen, noch in deren Jeans und T-Shirts zu passen. Grösse 36 auf Lebenszeit?
Autorin: Vera Sohmer, 11.13
Angesichts solcher Episoden könnte Psychologin und Buchautorin Maja Storch die glatten Wände hoch. «Was ist das für ein Quatsch, dass 50-jährige Frauen daherkommen sollen wie 20?» Fatal sei dieser Schönheitsterror in mehrfacher Hinsicht: Viele reifere Frauen setzen sich enorm unter Druck. Manche von ihnen so sehr, dass sie in den Wechseljahren in eine Magersucht hineinrutschen. Sie können es nicht akzeptieren, dass sich ihr Körper hormonell bedingt verändert, vielleicht fülliger wird. Also hungern sie sich in die Kleidergrössen ihrer Töchter – wie zum Beispiel die 50-jährige Schauspielerin Demi Moore.
Dieses Problem ist noch wenig bekannt, ausser in speziellen Kliniken bislang kaum ein Thema. Kein Wunder: Minderjährigen Töchtern, die nur noch Haut und Knochen sind, kann man eine Therapie anordnen, Müttern hingegen schlecht. Ihre Essstörung bleibt deshalb meistens unbehandelt.
Schlimm findet Maja Storch den Jugendlichkeitswahn auch aus einem anderen Grund: Die Vorbilder für die Jungen gehen verloren. Diese sehen nicht mehr, wie sich ein Körper von Natur aus verändert, wenn er älter wird. Und deshalb sei notwendig, «dass da draussen Männer und Frauen herumlaufen, die 40, 50 oder 60 sind – und auch so aussehen wie 40, 50 oder 60, ungebotoxt und unoperiert,» sagt die Psychologin.
Junge Menschen brauchen diese Modelle dringend fürs eigene erfolgreiche Altern. Älter werden und es als Gewinn verbuchen, nicht als Makel oder gar als Krankheit: Liest man Ratgeber für reifere Menschen, ist viel von «mentalem Anti-Aging» die Rede. Gesund zu altern habe nicht nur mit körperlicher Verfassung, mit ausreichend Bewegung und ausgewogener Ernährung zu tun, sondern sei auch Kopfsache und Gemütspflege. Daraus resultiere dann eine Schönheit von Geist und Seele.
Für ein zufriedenes und glückliches Leben im Alter müssen jedoch weitere Faktoren stimmen, wie Studien belegen: Wirtschaftliche Sicherheit gehört dazu. Ob man auf erfüllte Jahre zurückblicken kann. Darüber hinaus braucht es ein Aktivitätsniveau, das den eigenen Bedürfnissen entspricht. Wer früher quirlig war, mag es auch nach der Pensionierung sein; passiveren Naturen gefällt es als Rentner hingegen beschaulicher. Wesentlich sind überdies soziale Kontakte. Ältere Menschen legen Wert auf die Qualität ihrer Beziehungen. Eng und persönlich müssen sie sein. Wer sich bei guten Freunden im Element fühlt oder beim Spielen mit den Enkeln die Zeit vergisst, kann daraus tiefe Befriedigung schöpfen, und die, da sind sich Experten einig, strahlt nach aussen.
Ob man alt ist oder körperlich attraktiv, verliert dann an Bedeutung, sagt der Soziologe François Höpflinger. Seiner Ansicht nach ist die Lage paradox: Immer mehr Frauen und Männer stufen sich selbst jünger ein, als sie sind. Die Phase eines jugendorientierten Lebens hat sich ausgedehnt; weit über 60-Jährige übernehmen Verhaltensweisen, die früher den Jungen vorbehalten waren: sportlich sein, reisen, guten Sex haben.
Gleichzeitig ist das Alter nicht akzeptiert. In einer Leistungsgesellschaft, in der das Prinzip «Alles ist machbar» gelte, habe man Mühe mit schicksalhaften Gegebenheiten wie Altern und Sterben. «Jugendlich, schlank, faltenfrei» lautet deshalb das propagierte Schönheitsideal. Vergessen Sie das, betont der Philosoph und Sozialforscher Andreas Giger. Nutzen Sie den Vorteil des Reiferwerdens: Junge Menschen wollen und müssen sich den all - gemeingültigen Normen ihrer Gruppe anpassen. Ältere dagegen können sich die Freiheit nehmen, unverwechselbar zu werden. Denn reife Schönheit, so Giger, sei immer individuelle Schönheit; eine, die sich in kein Schema pressen lässt.
Wesentlich dafür ist nach Gigers Ansicht ein liebevoller Umgang mit sich selbst. Das Geheimnis von altersunabhängiger Attraktivität liegt darin, sich zu akzeptieren, ins Reine zu kommen mit sich – und
echt zu sein. Nicht ständig Erwartungen von aussen erfüllen, einem bestimmten Bild entsprechen wollen, sondern das verkörpern, was man wirklich ist.
Denn: «Wir alle haben einen Sinn für Echtheit, und deshalb wirkt gerade ein authentisch gelebtes Leben attraktiv.» Maja Storch kann dem nur beipflichten. Menschen, die sich dem gängigen Schönheitsideal verweigern, finden leichter den Bezug zum natürlichen Altern. Und werden gelassener bleiben, wenn sie Falten entwickeln, es vielleicht sogar schön finden.
Andreas Giger: «Die Vision ‹Falten werden sexy!› lässt sich nur realisieren, wenn die reifen und erfahrenen Menschen die Sache selbst in die Hand nehmen.»
Den Fokus aufs Positive richten anstatt auf das, was altersbedingt nicht mehr geht. Dies sei eine gute Strategie, um zufrieden älter zu werden, sagt Kerstin Heydecker. GN-Autorin Vera Sohmer sprach mit der Marketing-Managerin, die ihre Diplomarbeit zum Thema Anti-Aging schrieb. Nach einer Tätigkeit in der Luxuskosmetik-Industrie lebt sie mittlerweile in Ecuador. Ihr besonderes Interesse gilt einem Ort im Süden, Vilcabamba, auch «Tal der Hundertjährigen» genannt. Laut einer Studie sind die Menschen hier besonders zufrieden und gesund. Die Lebenserwartung ist sehr hoch. Einer der Gründe: Das Alter wird nicht als Makel betrachtet, sondern geschätzt und respektiert. Der Ort zieht deshalb Pensionäre aus der ganzen Welt an.
GN (A.Vogel Gesundheits-Nachrichten): Sprechen wir von Schönheit, meinen wir meistens das äussere Erscheinungsbild. Gibt es nicht auch eine Schönheit des Geistes und der Seele?
Kerstin Heydecker: Auch bei jüngeren Menschen machen wir vielfach die Erfahrung, dass sie an Attraktivität verlieren, wenn sie ausser der schönen Schale nicht viel mehr zu bieten haben. Hier fehlt eben die Schönheit des Geistes und der Seele. Jemand, der hingegen ein spannender Gesprächspartner ist, vor neuen Ideen nur so sprudelt und Witz hat, kann eine Glatze, eine Hakennase oder abstehende Ohren haben und wirkt dennoch ungemein attraktiv.
GN: Strahlt diese «innere Schönheit» nach aussen?
Kerstin Heydecker: Äussere Schönheit ist vergänglich, innere Schönheit hingegen entwickelt sich weiter bis ins hohe Alter und strahlt definitiv nach aussen.
GN: Was kann man tun, damit Geist und Seele auch im Alter gesund bleiben?
Kerstin Heydecker: Im Optimalfall verfolgt man ein ganzheitliches Konzept. Dieses fusst auf einer körperlichen Säule, also Ernährung, Hautpflege, Bewegung; einer seelischen Säule – Stressbewältigung, Tiefenentspannung, altersbedingte Depression vermeiden; und einer technischen Säule, mit der die mentale Kraft gestärkt wird. «Gehirnjogging» ist damit nur unter anderem gemeint.
GN: Es gibt Menschen, die trotz Falten und grauer Haare attraktiv sind, eine gute Ausstrahlung haben. Wie schaffen sie das?
Kerstin Heydecker: Jemand, der zufrieden ist, positiv denkt, einfach eine gesunde Lebenseinstellung hat, strahlt dies aus. Trotz Falten oder grauer Haare wirkt diese Person attraktiv und auf ihre Weise schön. Wichtig ist, geistig flexibel zu bleiben, neue Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln, sei es im Alltag oder auf Reisen. Dies sorgt auch dafür, dass man mit positiven Ereignissen beschäftigt ist, gar keine Zeit mehr hat zum Grübeln. Es ist wichtig, dass ältere Menschen ihren Fokus auf alles Positive ausrichten, anstatt auf das, was sie geistig oder körperlich nicht
mehr können.
GN: Warum wird Älterwerden in unserer Gesellschaft fast als Krankheit betrachtet?
Kerstin Heydecker: Mit dem Alter verbindet man häufig negative Assoziationen: abnehmende soziale Kontakte, Verlust der Unabhängigkeit, körperliche Gebrechen. Die positiven Aspekte des Alterns wie die geistige Reife, der breite Erfahrungsschatz und die Schönheit von innen durch eben diese gemachten Erfahrungen geraten in den Hintergrund. Unsere Gesellschaft wird jedoch immer älter – die heutigen «Best Ager» wollen mit 50 plus noch lange nicht zum «alten Eisen» gehören. Sie möchten ihr jüngeres Lebensgefühl mit der äusseren Erscheinung in Einklang bringen. Deshalb nimmt der Anti-Aging Markt so riesige Dimensionen an.
GN: Anti-Aging – ist dieser Begriff nicht eine Lüge und eine Frechheit?
Kerstin Heydecker: Anti-Aging ist ein Modebegriff; im rapide wachsenden Anti-Aging-Markt lässt sich eine geradezu inflationäre Verwendung beobachten. Hundertprozentig passend ist er nicht – Anti-Aging ist ein viel zu mächtiges Wort für die begrenzten Möglichkeiten. Zudem führt «Anti» auf eine falsche Fährte – es impliziert Negatives. Und weckt den Irrglauben, es gäbe heutzutage eine perfekte Gegenstrategie, mit der man alle Probleme einer ungesunden, den Alterungsprozess beschleunigenden Lebensweise ungeschehen machen kann.
GN: Welcher Begriff wäre besser, um die reifere Generation zu umwerben?
Kerstin Heydecker: Die heutige Generation 60 plus hat tatsächlich eine grosse Bedeutung für die Wirtschaft – sie verfügt nicht nur über ausreichend Zeit, sondern auch über Geld. Sie hat deshalb eine enorme Macht im Markt und zwangsläufig orientieren sich die Unternehmen immer stärker an deren Bedürfnissen. Statt «Anti-Aging» wären sicherlich Begriffe wie «Slow Aging» – langsames Altern, «vitales Altern» oder «besseres Altern» angebracht, weil diese besser auf den Punkt bringen, was gemeint ist.