Richtiges Atmen kann die Stimmung beeinflussen, für Erholung sorgen und die Gesundheit fördern. Mit therapeutischer Unterstützung lässt sich das gut trainieren.
Text: Christine Bielecki
Wir atmen Zeit unseres Lebens automatisch. Zum Glück. Was wäre das für ein Chaos, wenn wir auch noch daran denken müssten! Doch Spass beiseite: In Wahrheit können wir unsere Atmung führen. Aber nun einmal von vorne: Unsere Zellen benötigen Sauerstoff um zu funktionieren. Der Sauerstoff gelangt beim Einatmen in die Lungen und wird dann an das Blut abgegeben. Das Blut verteilt den Sauerstoff im ganzen Körper und befördert Kohlendioxid als Abfallprodukt des Stoffwechsels zurück. So atmen wir das Kohlendioxid wieder aus. Und obwohl wir automatisch atmen, ist die Atmung gleichzeitig die einzige vegetative Funktion unseres Körpers, die wir selbst beeinflussen können.
Gelingt das, können wir mit unserer Atmung das Nervensystem beruhigen, wir können uns zentrieren und entspannen. Der Sportwissenschaftler Thorsten Ribbecke ist wissenschaftlicher Referent an der Trainerakademie des Deutschen Olympischen Sportbundes und beschäftigt sich mit Regenerationsstrategien. Er erforscht also, wie der Mensch sich am besten erholt. «Schlaf, Ernährung und Atmung – das sind die drei Bereiche unseres Lebens, die für bestmögliche Erholung sorgen», erläutert Ribbecke. Das gilt für den Leistungssportler genauso wie für jede andere Person. Schlaf und Ernährung, das leuchtet vielen ein. Doch Atmung wird als zentrales Element der Erholung gerne vergessen. Auch von Hochleistungssportlern. «Wir atmen 16 Mal pro Minute und damit fast 24 000 Mal am Tag. Es macht Sinn, etwas, das wir so häufig machen, zu optimieren. Atemtechniken liefern die Grundlage für viele Regenerationsstrategien wie Meditation oder autogenes Training. Von einer richtigen Atemtechnik profitiert nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Leistungsfähigkeit», sagt Ribbecke.
«Der Ruhe-Atem harmonisiert alle vitalen Vorgänge und die Atemtherapie kann das auf unterschiedliche Weise unterstützen», sagt Evelyne Kernen, Atemtherapeutin und Leiterin der Atemtherapie-Ausbildung der LIKA GmbH, Fachschule für Atem, Beratung und Therapie bei Brugg, im Aargau. Sie bestätigt Ribbeckes Aussagen. Und sie weiss auch, warum wir unsere Atmung trotzdem gerne links liegen lassen. «Wenn alles gut läuft und wir gesund sind, dann brauchen wir den Fokus auf die Atmung kaum», sagt Kernen. «Der Atem spiegelt immer die aktuelle Situation oder das momentane Befinden. Das kann auch unangenehm sein. Wenn das Tempo zu hoch ist, beispielsweise.» Damit meint Kernen allerdings nicht den Dauerlauf. «Sport und Bewegung sind sehr wichtig für unsere Atmung. Wenn wir uns zu wenig bewegen – und das ist in der heutigen Zeit ja ein grosses Problem – verlieren wir an Atemvolumen.» Mit dem zu hohen Tempo ist unser schnelllebiger Alltag gemeint. Und weil wir nahezu alle darin gefangen sind, macht es Sinn, bestmöglich zu regenerieren. Etwa, indem wir den Fokus auf die Atmung richten und alleine dadurch schon unserem Körper Erholung gönnen. In unserer hektischen Betriebsamkeit kann der Atem ein bedeutendes Warnsignal sein. Doch dafür müssen wir erst lernen, ihn auch wahrzunehmen. Wann achten wir eigentlich noch auf unseren Körper?
Tief durch die Nase zu atmen, fördert die innere Ruhe. Es tut gut, dies regelmässig bewusst zu üben:
«Die Atmung erzeugt Reaktionen in unserem Nerven-, Muskel- und Fasziensystem, im Knochen- und Gelenksystem und hat Einfluss auf das autonome und das zentrale Nervensystem», erklärt Thorsten Ribbecke. Es ist ja kein Geheimnis: Tief durchzuatmen hilft, etwa bei Lampenfieber, Aufregung, Wut und Schmerz. Matthias Edel ist Klangtherapeut in Basel. Er kam über die Musik zum Thema Atmung. Schon in seiner Kindheit begann er diverse klassische Instrumente zu spielen. Irgendwann wurde ihm bewusst, dass die richtige Atemtechnik sowohl beim Singen als auch beim Spielen von Blasinstrumenten unabdingbar ist. Heute kommen nicht nur Musiker zu ihm, sondern verschiedene Menschen, die bewusster atmen lernen möchten. «Wenn wir über die Atmung mehr Achtsamkeit aufbauen, wenn man sich des Atems bewusster wird, lassen sich Rückschlüsse auf das Befinden ziehen. Andersherum gilt aber auch: Richten wir den Fokus kurz auf die Atmung, ändert sie sich automatisch», sagt er.
Probleme bei der Atemtechnik können sogar zu muskulären Dysbalancen führen. Und auch das ist kein Wunder: Wer permanent in Hektik ist und beim Atmen immer die Schultern hochzieht, wird rasch Verspannungen im Nackenbereich spüren. «Unsere Atmung hat Wirkung auf die Haltung, die Haltung hat umgekehrt aber auch wieder Wirkung auf die Atmung. Es hat immer alles eine gegenseitige Wirkung», sagt Matthias Edel. Auf die Idee, dass sich etwa Rückenschmerzen durch Atemtechniken lösen lassen, kommen die wenigsten. «Das ist richtig», sagt Evelyne Kernen, «vielen ist gar nicht bewusst, dass an der Atmung etwas nicht stimmt.»
Doch alleine schon durch die Pandemie habe sich das Bewusstsein der Menschen verändert. «Die Atmung ist etwas mehr in den Fokus gerückt», hat die Atemtherapeutin beobachtet. «Die Menschen sind interessiert, aber nicht immer diszipliniert», so ihre Erfahrung. Aber: «Wer sich mit der Atmung tief auseinandersetzt, sich dafür Zeit nimmt, kann schöne Erfahrungen machen.» Evelyne Kernen arbeitet viel mit Bewegung, mit fliessenden Bewegungen, die von der Atmung geführt werden. So lernen wir auch wieder, unser Zwerchfell zu entspannen.
Das Zwerchfell ist schliesslich ein Muskel. Daueranspannung tut ihm nicht gut. «Es ist einer der grössten Muskel unseres Körpers», betont die Therapeutin. «Wenn das Zwerchfell verspannt ist, hat dies Auswirkungen auf den ganzen Körper.» Auch das liegt eigentlich auf der Hand. Denn könnten wir in unseren Körper hineinsehen, wäre sichtbar, wie sich bei einer Zwerchfellatmung auch alle Organe mitbewegen. «Weil das Zwerchfell mit fast allen wichtigen Organen verbunden ist, beeinflusst es vieles, wie z.B. die Stoffwechselfunktion, Verdauungsbeschwerden, aber auch Stimmprobleme», so die Atemtherapeutin. Auch unsere Muskeln profitieren von einer tiefen Bauchatmung.
Die Muskeln des Bauches und des Beckenbodens sind mit dem Zwerchfell über Bindegewebe verbunden. Beide Muskelgruppen unterstützen bei der Atmung. Atmen wir ein, muss sich der Beckenboden entspannen, um absinken zu können. Durch das vergrösserte Lungenvolumen werden Bauch- und Beckenbodenmuskeln etwas nach aussen geschoben.Beim Ausatmen ziehen sich die Beckenbodenmuskeln wieder zusammen. Sowohl der Transversus abdominis, der quere Bauchmuskel, als auch der Beckenboden werden dabei gedehnt und lassen bei der Ausatmung los.
Aber wie stellt man überhaupt fest, ob das Zwerchfell angespannt ist? Wie spüren wir, ob wir in Ruhe auch wirklich ruhig atmen? «Ich gebe meinen Kunden dazu immer das folgende Bild auf den Weg: Wenn du abends auf dem Sofa sitzt, dann öffne mal deinen Hosenknopf. Lass den Bauch so richtig raushängen», beschreibt es Musiktherapeut Matthias Edel. Alleine das haben viele von uns verlernt. Schliesslich gilt der flache Bauch als Schönheitsideal und wird schon in jungen Jahren bewusst eingezogen. Mit eingezogenem Bauch ist eine tiefe Bauchatmung aber überhaupt nicht möglich. «Darüber hinaus wird der Bauch oft mit emotionalen Momenten in Verbindung gebracht. Im Bauch staut sich vieles an. Und so wird natürlich auch eine muskuläre Spannung in diesem Bereich aufgebaut, um Emotionen zurückzuhalten», erklärt Matthias Edel.
Anspannung per se ist jedoch nicht immer schlecht. Der Mensch braucht auch positiven Stress. Die Atmung passt sich unserem Rhythmus an. Für eine sportliche Aktivität ist beispielsweise die Brustatmung funktionell. Am meisten Luft strömt in die Lungen, wenn sich der Brustkorb maximal ausdehnt. Wichtig ist aber zu lernen, in ruhigen Momenten auch entspannt zu atmen. Und dann kommt wieder das Zwerchfell ins Spiel. «Dazu müssen wir nicht immer Atemübungen durchführen», betont Evelyne Kernen. «Ich schaue bei meinen Klienten, wie sie stattdessen die Situation verändern können. Manchmal ist es ein Spaziergang durch den Wald, der den Atem zur Ruhe bringt. Man kann mit dem Atem ‹spielen› und spüren, was tut mir gut und somit dem Atem. Und das darf ich dann auch tun.» Matthias Edel empfiehlt, öfter in sich hineinzufühlen, sich auch mal fragen: «Wie atme ich im Moment? Und das übt sich natürlich zunächst leichter in Momenten, in denen wir nicht schon gestresst sind. So lernen wir, den Fokus auf die Atmung zu setzen und können später auch in angespannten Situationen frühzeitig erkennen, dass etwas nicht stimmt, und dass wir selbst entscheiden dürfen, wie wir atmen.»
Fazit: Schaffen wir in unserem Leben wieder das Bewusstsein für unsere Atmung, dann können wir uns leichter entspannen. Denn tief durchatmen hat doch noch meistens geholfen.
Atemübung 1
Legen Sie sich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden. Spüren Sie dann selbst, ob es sich für Sie angenehmer anfühlt, wenn Sie die Füsse aufstellen. Legen Sie eine Hand auf Ihr Herz und eine Hand auf Ihren Bauch. Beginnen Sie nun, gegen die Hand, die auf dem Bauch liegt, einzuatmen. Ihr Bauch wird sich dabei anheben. Achten Sie darauf, durch die Nase ein- und auszuatmen. Wichtig ist, dass Sie beim Einatmen nicht den Bauch einziehen. Bleiben Sie einfach so liegen, atmen Sie ruhig weiter. Nach einer kurzen Weile werden Sie feststellen, wie sich Gesicht, Nacken, Schultern und Extremitäten entspannen.
Atemübung 2
Kommen Sie in den Vierfüsslerstand. Die Hände sind direkt unterhalb der Schultern aufgestellt, die Fingerspitzen zeigen nach vorne. Die Knie sind auf einer Linie mit ihren Hüften aufgestellt. Der Rücken ist gerade und entspannt. Atmen Sie ein und bewegen Sie dann mit dem Ausatmen das Becken Richtung Ferse. Legen Sie dabei die Unterarme am Boden ab und lassen Sie die Stirn Richtung Boden sinken. Dabei wird Ihr Rücken rund. Bleiben Sie für das nächste Einatmen in dieser Haltung. Dabei lässt sich vielleicht auf den Oberschenkeln spüren, wie sich der Bauchraum ausdehnt. Es folgt ein weiteres Ausatmen in dieser Position. Dann richten Sie sich mit dem nächsten Einatmen wieder in den Vierfüsslerstand auf. Achten Sie dabei darauf, dass der Rücken nicht ins Hohlkreuz geht. Wiederholen Sie diese Übung vollständig drei Mal.