Hypochonder haben Angst vor Krankheiten – und sie können nützliche Ratgeber sein, schreibt eine Betroffene und ehemalige Redaktorin der Gesundheits-Nachrichten in einem Erfahrungsbericht.
Christine Weiner, 03.11
Es ging mir damals schlecht. So schlecht, dass ich tagaus tagein mit nichts anderem beschäftigt war, als endlich wieder gesund zu werden, bzw. Ärzte zu finden, die mein Leiden lindern halfen. Von Schwindel, Herzrasen und Übelkeit geplagt, konnte die Ursache meiner körperlichen Anzeichen doch nur ein Hirntumor oder eine Multiple Sklerose sein. Beides schwere Krankheiten, die von einem Neurologen festzustellen waren.
Aber der stellte nichts fest. «Da ist nichts», meinte er ganz lapidar. Ich wusste es besser. Dieser Mann hatte seine Approbation wohl im Lotto gewonnen! Das war doch zu sehen, dass ich litt. Ausserdem hatte ich bezeichnende Symptome! Mit meinen 24 Jahren fühlte ich mich so krank, dass ich eine Kur in Angriff nahm.
Am Tag der Abreise frühstückte ich bei einer Freundin. Da kam er auf einmal wieder, dieser Schwindel, gepaart mit einem unkontrollierbaren Zittern in den Beinen. Schweiss-nass stand ich auf, bewegte mich ein paar Schritte in der Küche, während ich meine kerngesunde Freundin lachend telefonieren hörte. Mein Ende war nah, plötzlich und unerwartet. Bis mein Blick auf die Waschmaschine fiel – die schleuderte! Als der Schleudergang zu Ende war, hörte auch das unkontrollierbare Zittern meiner Extremitäten auf und als meine Freundin sich wieder zu mir setzte, ass ich mein Ei, als sei in den letzten Minuten nichts geschehen.
... oder sagen wir mal besser, ich war eine. Und deswegen muss ich mich auch gar nicht schämen, denn ich stehe nicht allein. Hunderttausend andere Menschen kennen wie ich diese besondere Form von Panik, die sich in der Seele breit macht, wenn es an verschiedenen Körperstellen zwickt und zwackt oder die Blutwerte einmal nicht okay sind. In Prozenten ausgedrückt: bei zehn Prozent aller Hausarztpatienten soll es sich um Hypochonder handeln! Weltberühmt ist Molières Komödie «Der eingebildete Kranke» (vor 300 Jahren verfasst!) die sich um nichts anderes dreht, als dass die Tochter des Hauses, doch bitte einen Arzt zum Gatten nehmen soll. Denn was ist beruhigender für einen Hypochonder, als einen wirklichen Haus-Arzt in der Nähe zu wissen.
Das Phänomen der Hypochondrie lässt sich weit bis in die Antike zurückverfolgen. Der griechische Ursprung dieses Begriffs bezeichnet die Gegend rund um den unteren Rippenbogen und meint die unbegründete Angst vor Krankheit. Die Oberbauchregion sah man im übrigen auch als das Zentrum der Melancholie, welche meiner Erfahrung nach mit der «Krankheitsfurcht» eng verbunden ist.
Eine unbegründete Furcht vor Krankheit also. Aber: Wer genau will sagen, dass sie auch wirklich unbegründet ist? Der Hypochonder glaubt es jedenfalls nicht. Über Körper, Geist und Atmung kann er ausschweifend phantasieren. Jede Veränderung wird ängstlich registriert. War dieser Leberfleck bereits gestern da oder handelt es sich hier etwa um eine neue krebsartige Geschwulst? Der Hypochonder liest nach. In Büchern, im Internet oder in medizinischen Zeitschriften jeder Couleur. Fast könnte er sich selbst um ein Medizinstudium bewerben, wäre er für das Studieren nur nicht zu krank.
Hypochondrische Störungen tauchen bei Männern und Frauen gleich häufig auf.
Hypochonder kann jeder werden! Vorzugsweise ist dieser Weg jedoch in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter einzuschlagen, am besten dann, wenn die Phantasie noch unzensiert ist. Sind bereits die Eltern um ihr Körperbefinden sehr besorgt, können sie dem Hypochonder als gutes Vorbild dienen. Bereits in jungen Jahren weiss er dann, dass selbst ein Fahrradausflug nicht ohne Calciumpräparate, Pflaster und Magentabletten durchzuführen ist. Der übervolle Medizinschrank seiner Eltern ersetzt jede Apotheke. «Und vergiss die Gallentabletten nicht!», ruft ihm seine Mutter zu, denn sie weiss, wie sehr eine nervöse Gallengegend schmerzt.
Nehmen wir einmal an, Sie hätten das Leben als Hypochonder satt, was ist dann zu unternehmen? Nun, erst einmal müssen Sie sich, wie ich, eingestehen, dass Sie einer sind. Später gesellt sich dann die Erfahrung und Beobachtung hinzu, dass Hypochonder vorzugsweise in Stresssituationen erkranken, wenn Versagensangst die arme Seele beutelt oder wenn sie einfach keine Lust haben, über andere «wirkliche» Probleme nachzudenken. Beispielsweise über Konflikte im Büro, in der Beziehung oder mit den Kindern.
Jegliches Problem wird klein, legt sich die Angst vor Brustkrebs, Tumoren oder einer Darmspiegelung darüber. Diese Ängste sind einfach ungleich grösser, erfassen den ganzen Menschen und können scheinbar nicht zur Seite geschoben werden – es sei denn, man fragt sich ehrlich: «Wovor habe ich eigentlich tatsächlich Angst?» Mag sein, dass der reale Konflikt tatsächlich schwer und problematisch ist, sterben daran werden wir vermutlich aber nicht.
Doch bringt man als Hypochonder neben allem «Lass mich, ich habe Kopfschmerzen!» nicht auch Positives mit? Sicherlich eine fundierte Kenntnis über den eigenen (und auch andere Körper). «Sind Sie Ärztin?», wurde ich einmal gefragt, als ich einer fast ohnmächtigen Dame in die stabile Seitenlage half. «Nein, Hypochonderin», antwortete ich spontan und sah sofort offene Münder und ehrliches Erstaunen.
Hypochonder sind sensibel und zart. Wer aber sensibel und zart ist, kann körperliche und seelische Zustände anderer sehr genau spüren und sich in die Lage anderer Leidenden versetzen. Er kann aber auch mit Erfahrung, Rat und Tat zur Seite stehen. Wohl dem, der einen Hypochonder kennt. Denn wird man selbst krank – ein Hypochonder weiss immer Hilfe («Nimm mal …»). Er spendet auch Trost: «Kenn ich», sagt er, «nur war’s bei mir viel schlimmer!». Und schon macht sich Hoffnung am Krankenbette breit.
Wer seine ständige unbegründete Besorgnis ablegen möchte, braucht Streicheleinheiten. Für die Seele. Wenn Sie mal wieder befürchten, dass eine schreckliche Krankheit sie befällt, dann tun sie sich einfach etwas Gutes. Sprechen Sie lieb und verständnisvoll mit sich. Sagen Sie sich: «Armes Schätzchen, hab’ keine Angst – komm wir schauen mal, was dich so bedrückt.» Auf diese Weise nehmen Sie den kleinen Hypochonder in ihrer Seele ernst. Und auch die Angst, denn die will Ihnen ja eigentlich hilfreich sein. Sie will sie bewahren, beschützen und ist in ihrem Tun einfach ein wenig übereifrig geworden.
Und zwar der Glaube, dass ihr Körper gesund ist und über unglaubliche Selbstheilungskräfte verfügt. Und das Zutrauen in die Sicherheit, dass Sie es bestimmt merken werden, sollte ihr Körper es einmal allein nicht schaffen und einen Arzt zur Unterstützung braucht. Wenn Sie sich ständig krank und müde fühlen, will Ihnen Ihre Seele etwas sagen. Vielleicht hören Sie ihr einfach einmal zu, bevor Sie Tees und Pillen schlucken. Streicheln Sie Ihren Körper, und sehen Sie in ihm nicht den Feind. Ihr Körper meint es gut mit Ihnen! Helfen Sie ihm dabei.
Zum Beispiel: Psychotherapeutische Gespräche, Übungen für eine bessere Körperwahrnehmung, Kinesiologie, Entspannungsübungen. Aber: Auch die medizinische Vorsorge nicht vergessen, denn wirklich sicher ist man nie...