Die Augen gehen über, die Nase läuft. Das Taschentuch ist Empfänger von Tränen und weniger hoffähigen Sekreten, Schmuckstück und Liebespfand, ständiger Begleiter und erstes Wegwerfprodukt: eine wechselvolle, spannende Geschichte.
Das Taschentuch: ein Stück Stoff oder Papier, das in jede Tasche passt und zum Säubern der Nase dient. In der Schweiz und im süddeutschen Raum nennt man das interessante Tüchlein deshalb auch Nas(en)tuch.
Autorin: Judith Dominguez, 11.15
Das menschliche Riechorgan steht markant in der Mitte unseres Gesichts und prägt neben Augen und Mund unser Aussehen ganz entscheidend. Es gibt kleine Stupsnasen, grosse Zinken, Knollennasen oder Hakennasen, und jeder hat eine für ihn ganz typische Nasenform. Dies verleitete so manchen Gelehrten dazu, Merkmale der Nase mit denen des Charakters in Verbindung zu setzen. Aristoteles zum Beispiel, der berühmte griechische Philosoph der Antike, meinte, dass Menschen mit Hakennasen grossmütig und solche mit einem spitzen Riechorgan jähzornig sind. Heute glaubt das niemand mehr; die Nase ist ein Organ wie andere auch – und doch auf ihre Weise einzigartig.
So sehr sich Nasen in der Form auch unterscheiden, das Organ hat bei allen Menschen die gleiche Funktion. Durch die Nasenlöcher atmen wir Luft ein, um die Lungen mit lebensnotwendigem Sauerstoff zu versorgen. In beheizten Räumen ist die Luftfeuchtigkeit gering – der Nasenschleim befeuchtet sie.
Gleichzeitig wird die Luft je nach Witterung gekühlt oder gewärmt, und feinste Staubpartikel bleiben im Schleim kleben, so dass die zarten Lungenbläschen nicht verschmutzt werden. Die Drüsen der Nasenschleimhaut produzieren ungefähr hundertfünfzig Milliliter Nasenschleim pro Tag, der je nach Gegend mehr oder weniger derb auch als Rotz, Schnodder oder Popel bezeichnet wird.
In der Regel bemerken wir nicht viel von dieser Schleimproduktion, denn der grösste Teil läuft unbemerkt durch den Rachen ab. Sobald die Schleimhaut aber durch eine Infektion oder Allergie gereizt wird, beginnt die Nase zu laufen. Auf den ersten Blick erscheint dies eher lästig als nützlich. Das verflüssigte Sekret dient aber der natürlichen Reinigung und ist als Abwehr gegen Keime und Allergene zu verstehen.
Vorne an den Nasenlöchern trocknet der Schleim recht schnell aus, verklebt mit der Schleimhaut, und die Rückstände sind mit Schnäuzen kaum zu entfernen. Deshalb sind Menschen typische Nasenbohrer, auch wenn sie das aus kulturellen Gründen nur heimlich tun.
Und es kommt noch schlimmer: Da man nicht so recht weiss, wohin mit dem trockenen Zeugs, steckt man es sich einfach in den Mund. Die Mediziner, die für fast alles ein lateinisches Wort kennen, nennen das Entfernen von eingetrocknetem Nasenschleim mit dem Finger und Verspeisen desselben «Mukophagie».
Diese Gewohnheit ist gesellschaftlich absolut verpönt, aber dennoch weit verbreitet. Peinlich, wenn Schauspielerinnen, königliche Hoheiten oder Fussballtrainer beim Popeln in der Öffentlichkeit erwischt werden – aber sie sind eben auch nur Menschen.
Aus gesundheitlicher Sicht ist die Angewohnheit völlig unbedenklich, denn der grössere Teil des Sekretes mit den gefilterten Staubpartikeln wird sowieso – ganz ohne Umweg über die Nasenöffnung – unwillkürlich verschluckt. Scott Napper, Professor für Biochemie an der kanadischen Universität in Saskatchewan, ist der Ansicht, das Verspeisen des zutage geförderten Sekrets sei sogar medizinisch sinnvoll: Es enthalte Antikörper und stärke das Immunsystem.
Nicht in jeder Kultur wird zum Naseputzen ein Taschentuch benutzt, und auch in Europa war das bis in die Neuzeit hinein nicht üblich. In der Öffentlichkeit den flüssigen Schleim hochzuziehen, gilt heute in unserem Kulturkreis als unerzogen. Verhaltensregeln sind kulturell jedoch sehr unterschiedlich und ändern sich im Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Dies gilt ganz besonders für alles, was mit Ausscheidungen zu tun hat.
Wir schliessen uns zur Verrichtung der Notdurft aus Scham vor anderen in eine Kabine ein, Schnäuzen aber können wir uns in aller Öffentlichkeit. In Japan und Korea ist öffentliches Schnäuzen dagegen ein Tabu. Das Hochziehen des Nasenschleims aber gilt als Körperbeherrschung und darf jederzeit in der Öffentlichkeit erfolgen. Die Chinesen rülpsen gern nach einem guten Essen, aber sie schnäuzen sich die Nase nicht bei Tisch.
Eine sittliche Anweisung aus dem Europa des 16. Jahrhunderts sagt, dass das Schnäuzen am Tisch in ein Tüchlein erlaubt sei, aber keinesfalls, dass man das Stoffstück danach auffalte und hineinsehe.
Das Schnäuzen mit den Fingern ist bei uns verpönt; in anderen Kulturen aber drückt man sich den Finger auf den einen Nasenflügel und bläst aus dem andern den Schleim aus. Da waren die Menschen im antiken Rom schon etwas fortschrittlicher – sie reinigten ihre Nasen nämlich am Ärmel der Kleider oder am Tischtuch.
Taschentücher waren bereits in der Antike äusserst beliebt, nicht aber, um sich die Nase zu putzen, sondern um sich damit den Schweiss von der Stirn zu wischen. Der römische Dichter Catullus nennt das Tuch in seinen Schriften «sudarium», was so viel wie Schweisstuch heisst.
Im 11. Jahrhundert spielten die kleinen Tücher eine wichtige kulturelle Rolle als Liebespfand. Der Ritter nahm das Tüchlein seiner Geliebten mit in den Kampf, damit es ihm Glück bringe und ihn schütze. Die jungen Frauen wiederum liessen ihre Tücher wie unabsichtlich fallen, so dass ein galanter Herr es für sie aufheben konnte. Dies führte auch schon zur Entstehung von Weltliteratur, denn die Tücher gingen, absichtlich oder nicht, manchmal am falschen Ort verloren. So geschah es der Desdemona bei Shakespeare, die ein verlorenes Taschentuch mit dem Leben bezahlte: Othello war wegen des bestickten Tüchleins von ihrer Untreue überzeugt.
Im Mittelalter stellte vor allem die damals bedeutende Handelsstadt Venedig verzierte Luxustücher her. Sie waren ausserordentlich teuer, und in manche wurden sogar winzige Diamanten und feinste Goldfäden eingearbeitet. Ein solches Tuch zu besitzen war Zeichen von Reichtum und guter Sitte.
Der Gelehrte Erasmus von Rotterdam zum Beispiel soll fast vierzig Taschentücher sein Eigen genannt haben. Die Tücher waren mit Monogrammen bestickt und so schön, dass sie für alle sichtbar in der Hand gehalten und nicht etwa in die Tasche gesteckt wurden. So liessen sich damals berühmte Personen wie die Infantin Maria Theresa von Spanien malen.
Mit diesen wertvollen Tüchern reinigte sich natürlich niemand die Nase, man nutzte sie nur zur Zierde. Die Männer steckten sie sich zu festlichen Anlässen schön drapiert in die Brusttasche ihrer Anzüge. Adlige Damen tränkten sie mit Parfüm, und so nannte man die Stoffstücke auch Schnüffeltücher. Verliebte Jünglinge hielten sich diese mit sehnsüchtigem Blick unter ihr Riechorgan – das Accessoire bekam eine neue Funktion als Nas(en)tuch.
Bis vor ungefähr achtzig Jahren waren alle Taschentücher aus Stoff und wurden wie ein Kleidungsstück gewaschen und wiederverwendet. Mit Taschentüchern winkte man sich am Bahnhof zum Abschied, um in der Menge besser gesehen zu werden, und der Knoten im Taschentuch war eine bewährte Gedächtnisstütze. Mit einem Knoten in allen vier Ecken wurde aus einem grossen Stofftaschentuch eine Kopfbedeckung und ein Sonnenschutz.
Einwegtaschentücher aus Papier wurden wegen der starken Verbreitung der oft tödlichen Tuberkulose interessant. Allerdings dauerte es recht lange, die Bevölkerung von ihrem Nutzen zu überzeugen. Papiertaschentücher waren eines der ersten Wegwerfprodukte und verdrängten die Stofftücher fast gänzlich vom Markt.
Die papierenen Tücher stecken heute in jedem Hosensack und in jeder Handtasche. Sie sind allzeit bereit, sollte sich ein Nieser ankündigen. Droht im Konzert ein Reizhusten die andächtige Ruhe zu stören, drückt man sich das Tuch vor den Mund. Man tupft die Blutstropfen vom Knie des Kindes, dass über die eigenen Füsse gestolpert ist. Mit Taschentüchern wischt man sich verstohlen die Tränen aus den Augen, wenn ein sentimentaler Film unter die Haut geht. Kurz, Taschentücher sind praktisch, um jegliche Ausscheidungen oder Verschmutzungen zu entfernen, ohne dass man sich die Hände dabei schmutzig machen muss.
Der Schnuderlumpen, wie die Schweizer sagen, das Schneuztuch, wie es die Österreicher nennen, der Triellompe, wie es ein Schwabe nennen würde, das Taschentuch eben wurde vielfach zweckentfremdet und erhielt teils einen hohen kulturellen Stellenwert.
Ohne Taschentücher wären die traditionellen Tänze der Griechen, Peruaner oder Chinesen nicht denkbar. Die Tücher gaben Filmen ihren Namen («Préparez vos mouchoirs» von Bertrand Blier, 1978) und erhielten literarische Denkmäler, beispielsweise bei Molière und Stendhal. In der französischen Revolution waren sie Symbol gegen die Adligen. Aus heutigen Taschentüchern werden Papierblumen gebastelt oder mit ihnen soziale Kontakte geknüpft, indem man Fremde im Notfall nach einen Taschentuch fragt.
Von Nord- bis Südamerika, der ursprünglichen Heimat der Tabakpflanze, war das Schnupfen, also das Hochziehen von Tabak durch die Nase, eine uralte Sitte. Von den zurückkehrenden Eroberern wurde sie nach Europa gebracht. Im 16. Jahrhundert schnupfte man in den Königshäusern die pulverisierten Blätter gegen Kopfschmerzen und Migräne.
Das Tabakpulver wird entweder zwischen die Finger genommen oder vom Handrücken geschnupft. Da durch das Einatmen der Niesreflex ausgelöst wird, gehört neben der Tabakdose ein handliches (Zier-)Taschentuch zum Zubehör jedes Schnupfers. (Ob Schnupftabak gesundheitsschädigend ist, ist übrigens umstritten. Allgemein gilt Schnupfen als weniger schädlich als das Rauchen, doch auf jeden Fall ist Nikotin eine Droge und kann abhängig machen, egal ob es geraucht, gekaut oder geschnupft wird.)
Der Taschentuchbaum (Davidia involucrata), auch Taubenbaum genannt, winkt ab dem Frühjahr mit seinen weissen Fähnchen.
Wie im Schlaraffenland, das wir als Kinder so sehr liebten, wachsen in China sogar Taschentücher am Baum. Das originelle Gewächs kann heute hin und wieder auch in unseren Gegenden als Zierbaum in Gärten und Parkanlagen bewundert werden. Das hat er seinem ganz besonderen Erscheinungsbild zu verdanken, das in der Blütezeit von April bis Juli in seiner ganzen Pracht zu bewundern ist: Die weiblichen Blüten haben Hochblätter, die wie weisse Taschentücher im Wind flattern. Solche Hochblätter winken den Insekten zu und laden sie ein, die Blüte zu besuchen.
Wer so ein exotisches Gewächs in seinem Garten pflegen möchte, braucht allerdings Geduld, denn die ersten Taschentücher können erst nach ungefähr fünfzehn Jahren bestaunt werden.