Sie sind um uns und in uns, allüberall, jeden Tag im Jahr, und das seit Tausenden von Jahren. Viren sind für schwere Krankheiten verantwortlich und haben weltweite Epidemien ausgelöst. Wir müssen mit ihnen leben, ob wir wollen oder nicht.
Autorin: Dr. Claudia Rawer, 11/20
Viren sind ein ständiger Weggefährte des Menschen, und, um es ein wenig salopp auszudrücken, die grössten Konkurrenten der Bakterien. Beide sind die Erreger von Krankheiten. So sind Bakterien die Ursache von Cholera und Typhus, Tuberkulose und Scharlach. Der «Schwarze Tod», die Pest, die über die Jahrhunderte wohl weit über 125 Millionen Menschen dahinraffte, wird über Zwischenwirte wie Flöhe vom Bakterium Yersinia pestis ausgelöst.
Viren verursachen die Pocken (weltweit rund 300 Millionen Tote allein im 20. Jahrhundert), die grausame Kinderlähmung, tödliche Grippewellen und die gefürchteten Fiebererkrankungen, die mit Blutungen einhergehen (hämorrhagische Fieber) wie Ebola, Gelbfieber und Lassa.
Doch während wir mit Bakterien durchaus auch in gutem Einvernehmen leben können – man denke nur an die Darmbakterien, die uns gesund und fit halten – ist das mit Viren nicht so einfach.
Im Gegensatz zu Bakterien gelten Viren nicht als Lebewesen. Antibiotika (griechisch bios = Leben) können ihnen nichts anhaben. Sie sind winzig und von höchst einfachem Bau; im Grunde bestehen sie nur aus gut verpackter Erbinformation (DNA oder RNA) und ein paar Eiweissen. Um als Lebewesen zu gelten, fehlen ihnen wichtige Eigenschaften: Ein Virus hat keinen eigenständigen Stoffwechsel, es kann nicht wachsen und vor allem: sich nicht selbständig vermehren.
Schneller noch als Bakterien verändern sie ständig ihr Erbgut. Diese Mutationen machen sie extrem anpassungsfähig und verschaffen ihnen unter anderem die Möglichkeit, unser Immunsystem zu überlisten.
Viren können Bakterien befallen, Pflanzen, Tiere und den Menschen. Sie sind vielfältig, formen- und zahlreich: Allein in allen Säugetier-Arten unserer Erde kommen wohl über 300.000 Viren vor. Experten schätzen, dass es zusätzlich noch mehr als anderthalb Millionen unentdeckter Viren gibt, die potenziell Säugetiere und Vögel befallen könnten. Theoretisch können all diese Viren irgendwann einmal auch auf den Menschen überspringen.
Um sich fortzupflanzen, brauchen Viren immer einen Wirt. Während Bakterien sich wie menschliche Zellen in der Regel durch Zellteilung vermehren, müssen Viren in eine Wirtszelle eindringen. Nur in deren Zellkern finden sie die Bausteine, um ihr Erbgut zu vervielfachen, bevor sie weitere Zellen infizieren.
Daher geht man auch davon aus, dass ein «schlaues» Virus seinen Wirt nicht tötet, denn ohne ihn kann er ja nicht überleben. Leider halten sich nicht alle an diese Regel. Einem hochinfektiösen Virus, das sich in raschem Tempo vermehrt, kann es egal sein, ob sein Wirt stirbt – bis das der Fall ist, hat dieser längst Hunderte anderer angesteckt, und der Erreger lebt in ihnen munter weiter. Das beweisen Virusepidemien, die in rasender Schnelligkeit um sich griffen, sich weltweit ausbreiteten und Abermillionen Todesopfer forderten.
Das Virus, das bislang wohl am lebendigsten im Gedächtnis der Menschen blieb, trägt den Namen A/H1N1 – die erste «Vogelgrippe». Es war ein hochansteckender, ungewöhnlich gefährlicher Abkömmling eines Influenzavirus. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und Anfang 1919 verbreitete es sich in drei Wellen über die Welt und forderte mehr
Menschenleben als der furchtbare Krieg – laut WHO zwischen 25 und 50 Millionen – und das bei einer Weltbevölkerung von damals «nur» 1,8 Milliarden. Schätzungen reichen sogar bis zu 100 Millionen, denn besonders für die sehr schwer betroffenen Teile Afrikas, Asiens und Ozeaniens sowie entlegene Regionen wie Alaska gibt es kaum gültige Todesfallzahlen.
Ironischerweise nennen wir diese Pandemie heute die «Spanische Grippe». Dabei stammt das Virus höchstwahrscheinlich aus dem Mittleren Westen der USA, wo es von Schweinen oder Hühnern auf den Menschen übersprang. Im und aus dem neutralen Spanien gab es nur die ersten Nachrichten über die Seuche. Hier konnte die Presse freier berichten als jene in den kriegsteilnehmenden Ländern, die jede Information über das Grassieren der Grippe unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung zensierten.
Die Zeitspanne von nur einem Jahr für das Auftreten von drei pandemischen Wellen ist eine Besonderheit dieses Influenzavirus, ebenso wie die Tatsache, dass ihm vor allem junge, bislang gesunde Menschen zwischen 20 und 40 Jahren erlagen. Anders als bei der saisonalen Grippe litten auch Überlebende oft für den Rest ihres Lebens an Spätfolgen wie neurologischen Funktionsstörungen.
Vergleicht man heute die «Spanische Grippe» mit anderen Epidemien, muss man sich klar machen, unter welchen Umständen dieses Virus sich so explosiv und so tödlich verbreitete. Ein furchtbarer weltweiter Krieg trug wesentlich zu seiner Ausbreitung bei. Aber auch die Handels- und Migrationsströme waren um diese Zeit schon weitgehend globalisiert, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie heute. Sie trugen das Virus um die Welt. Die erste Welle wurde von vielen Ländern nicht wirklich ernstgenommen – man war zu sehr mit den Folgen des Krieges und politischen Umwälzungen beschäftigt. Mit der zweiten Welle war das Virus mutiert und tödlicher als zuvor. Eine durch Hunger und Unterernährung geschwächte Bevölkerung – z.B. auch in der neutralen Schweiz – hatte ihm wenig entgegenzusetzen. Infizierte starben oft innerhalb von zwei Tagen. A/H1N1 forderte in der Schweiz nach Schätzungen 25.000 Tote, in Deutschland vermutlich etwa 600.000.
Zudem wusste man gar nicht, mit was man es da zu tun hatte. Das Influenzavirus wurde erst 1933 entdeckt. Schutzmassnahmen waren so gut wie unbekannt oder wurden gar nicht erst ausprobiert. Antibiotika, die trittbrettfahrende Bakterien hätten aufhalten können, gab es nicht. So starben viele an einer bakteriellen Lungenentzündung. Auch andere wirksame Medikamente oder Therapien wie eine künstliche Beatmung standen den Medizinern nicht zur Verfügung.
Der «Spanischen» Grippe folgten weitere Pandemien, häufig durch Viren entfesselt, die unter anderem auch Erbgut des Erregers von 1918 trugen. Die Asiatische Grippe wurde durch einen Untertypus ausgelöst, der aus der Kombination mit einem Geflügelpest-Virus entstanden war. Ihm fielen 1957 bis 1958 weltweit eine bis zwei Millionen Menschen zum Opfer. (Zum Vergleich: Im September dieses Jahres lag die Zahl der Menschen, die weltweit an dem neuartigen Coronavirus gestorben sind, bei etwa 925.000.)
Dieses leicht übertragbare Virus verursachte bis 1968 jedes Jahr weitere Influenza-Infektionen. Dann wurde es von einem anderen Virus-Subtyp abgelöst: Die als Hongkong-Grippe bezeichnete Pandemie in den Jahren 1968 und 1969 forderte ebenfalls bis zu zwei Millionen Tote in der ganzen Welt.
Das Influenzavirus von 1918, A/H1N1, hatte einen Wiederauftritt mit der «Russischen Grippe» 1977/1978 und 2009 mit der «Schweinegrippe». Von ersterer waren vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren betroffen, die in der Regel auch nur milde Symptome entwickelten. Dass Ältere weitgehend verschont blieben, führen Experten darauf zurück, dass vor 1957 Geborene dem bis dahin vorherrschenden Erreger A/H1N1 bereits ausgesetzt gewesen waren und eine gewisse Immunität besassen.
Die pandemische «Schweinegrippe» (der Name ist irreführend, aber «Neue Grippe» hat sich nicht durchgesetzt), schien trotz grösster Befürchtungen zunächst glimpflich abzulaufen. Sie wurde von Virusvariante H1N1 2009 verursacht. Insgesamt erkrankte die überwiegende Zahl der Betroffenen nur leicht. Es gab aber durchaus sehr schwere und tödliche Verläufe, auch bei jüngeren und nicht zu Risikogruppen gehörenden Menschen. Wie bei der «Spanischen Grippe» liegt die Zahl der Todesopfer wohl weit über der der gemeldeten und von Laboren bestätigten Fälle. Gerade in den ärmeren Ländern gab es kaum Labortests oder ein zuverlässiges Meldesystem. Experten schätzen die Zahl der Opfer daher inzwischen auf 150.000 bis 575.000. Das Virus zirkuliert übrigens bis heute.
Es gibt im Wesentlichen vier Übertragungswege: die Tröpfcheninfektion, die Kontakt- bzw. Schmierinfektion, die Ansteckung über den Austausch von Körperflüssigkeiten und die Infektion über blutsaugende Insekten. Da durch die Klimaveränderung immer mehr krankheitsübertragende Insekten auch nach Mitteleuropa gelangen, gewinnt letzterer Infektionsweg auch bei uns an Bedeutung: Ein Beispiel ist das Denguefieber, das durch die Gelbfiebermücke und die sich auch in Europa ausbreitende Asiatische Tigermücke übertragen wird.
Durch den Austausch von Körperflüssigkeiten, also direkten Blut- oder Schleimhautkontakt, kann man sich mit einer schweren und gefährlichen Leberentzündung (chronische Hepatitis B und C) oder HIV infizieren. Übertragungswege sind z.B. Bluttransfusionen, Nadelstiche aller Art oder der Geschlechtsverkehr. Auch beim Geburtsvorgang können Hepatitis B, HIV und das Herpes-simplex-Virus (Lippen- und Genitalherpes, aber auch andere Erkrankungen) übertragen werden. Masern, Röteln, Ringelröteln und das Cytomegalievirus (CMV) werden durch eine Infektion der Mutter an ungeborene Kinder weitergegeben. Dabei ist CMV (Familie Herpesviren) besonders tückisch: Während es für die Mutter weitgehend harmlos ist, kann die Infektion für das Kind schwerwiegende Folgen haben – von Hör- und Sehstörungen bis zu verzögerter Entwicklung und geistiger Behinderung.
Kontakt- oder Schmierinfektionen entstehen durch das Eindringen von Erregern in winzige Hautrisse, kleinste Verletzungen der Schleimhäute von Mund, Nase, Augen, und Atemtrakt sowie der Magen- und Darmschleimhäute, durch Tierbisse und mit Fäkalien verunreinigte Nahrung. So entstehen virale Durchfallerkrankungen, akute Hepatitis (A und E), Polio (Kinderlähmung) und die fast immer tödliche Tollwut.
Der Ausdruck «Tröpfcheninfektion» bezeichnet folgenden Vorgang: Krankheitserreger, die in Nase und Nasennebenhöhlen, im Rachenraum, den Atemwegen und in den Lungen siedeln, werden beim Niesen, Husten, Sprechen oder Singen durch winzige Speicheltröpfchen ausgestossen und in der Luft und auf Oberflächen verteilt. Werden in der Luft schwebende Teilchen von anderen eingeatmet, durch Berührungen wie Küsse und Umarmungen übertragen oder von benetzten Flächen (Handys, Türklinken etc.) aufgenommen, kann es zu einer viralen (oder auch bakteriellen) Infektion kommen.
Über Tröpfcheninfektion werden z. B. die «Kinderkrankheiten» Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken weitergegeben. Viren, die Erkältungen («grippale Infekte») oder die echte Grippe (Influenza) übertragen, haben sich auf die weit streuende und damit sehr wirksame Tröpfcheninfektion spezialisiert, ebenso das Coronavirus SARS-CoV-2, das uns momentan so beschäftigt.