Dr. med. Christian Kessler ist Oberarzt und Forschungskoordinator der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin.
Dr. Kessler: Durchaus. Man kann ja quasi einen gegenläufigen Trend zur zunehmenden Technisierung in der Medizin feststellen: Die Inanspruchnahme von naturheilkundlichen Therapieverfahren ist ungebrochen hoch, besonders im deutschsprachigen Raum. Bislang jedenfalls hat die Algorithmisierung der konventionellen Medizin keine Abnahme der Nachfrage nach naturheilkundlichen Methoden zur Folge. Das begründet sich aus meiner Sicht darin, dass es zunehmend gute wissenschaftliche Evidenzen für einige Therapieverfahren gibt und viele gute Behandlungserfolge.
Aus Patientensicht bzw. aus der Perspektive einzelner überforderter Patienten betrachtet, haben die Naturheilverfahren etwas zu bieten, was vielfach in der hochtechnisierten Medizin zu kurz kommt: das Menschelnde und Begleitende. Also sogenannte weiche Faktoren, die zunehmend von Bedeutung sind in einer Welt wachsender Unsicherheit, technischer Komplexität und scheinbarer Beliebigkeit.
Ich möchte die Digitalisierung keinesfalls nur als Nachteil sehen. Die Algorithmisierung der Medizin könnte im besten Fall auch bedeuten, dass man traditionelle naturheilkundliche Konzepte integriert, diesen neue Anwendungsmöglichkeiten eröffnet und dabei einen ganz anderen Blick auf ihre Wirksamkeit entwickelt. So könnte es zu einer vertieften Integration von Grundlagenwissenschaft und den Erfahrungen der Naturheilkunde kommen.
In Bioinformatik und Big Data sehe ich gerade im Hinblick auf die gesamten Omics-Disziplinen* grosse Chancen, z.B. für Ayurveda. Mit diesem schnell wachsenden Forschungsbereich liessen sich solche uralten Heilsysteme vielleicht neu validieren.
Als ganz normaler Arzt, als Internist wie als Ayurveda-Therapeut, betrachte ich persönlich die Digitalisierung durchaus ambivalent. Weil ich auch im Privaten sehe, wie uns die Abhängigkeit von der Technik oft wegbringt vom zwischenmenschlichen Kontakt. Gleichzeitig erkenne ich hier eine Chance für die Naturheilkunde: Denn das Analoge hat eine grosse Anziehung auf jeden, der des Digitalen überdrüssig wird. Meine Vermutung ist: Das Analoge wird irgendwann ein grosser Luxus werden. Und da hat die Naturheilkunde auf jeden Fall etwas anzubieten. Arzt sein besteht aus Sicht der Naturheilkunde nicht ausschliesslich darin, Diagnosen zu stellen und Therapien einzuleiten; es geht vielmehr darum, Menschen bei gesundheitlichen Fragestellungen umfassend zu helfen und sie zu begleiten – weit über eine rein technische Ebene hinaus.