Manche früher viel genutzte Heilpflanzen geraten mit der Zeit in Vergessenheit, obgleich grosses Potenzial in ihnen steckt. Was Sanicula europaea aus heutiger Sicht zu bieten hat.
Autor: Heinz Staffelbach
Was früher quasi als «Allheilmittel» galt, könnte doch auch heute noch helfen, oder? Im Fall des beinahe vergessenen Sanikel darf die Frage beherzt mit Ja beantwortet werden, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Sanicula europaea wurde früher bei einer ganzen Reihe von Leiden eingesetzt, von Knochenbrüchen, Magenblutungen, Magenschleimhautentzündung, Osteoporose, Verschleimung bis zu Wunden und Katarrhen.
Auf Basis der heutigen wissenschaftlichen Standards ist sein Einsatzspektrum etwas kleiner – er findet vor allem bei leichten Katarrhen der Luftwege Verwendung und bei Husten mit zähflüssigem Schleim.
Diese Wirkung verdankt er dem recht hohen Gehalt an Triterpensaponinen, der bis 13 Prozent erreichen kann; vorherrschend sind hier A1-Barrigenol und R1-Barrigenol. Saponine sind eine Gruppe von vergleichsweise komplex aufgebauten Naturstoffen. Der Name Saponine deutet auf ihre Verwandtschaft mit Seifen hin. Tatsächlich bilden sie beim Schütteln mit Wasser oft einen seifenartigen Schaum. Es gibt drei Hauptgruppen: Steroid-, Steroidalkaloid- und Triterpen-Saponine. In Pflanzen wirken Saponine wahrscheinlich als Abwehrstoffe, z.B. gegen Pilze und Insekten.
Daneben enthalten die Sanikelblätter noch Estersäuren (insbesondere verschiedene ungesättigte C5-Säuren) und Monosaccharidbausteine wie D-Glucuronsäure, D-Glucose und L-Arabinose. Im Weiteren finden sich in den Blättern Phenolcarbonsäurederivate wie Chlorogensäure (0,6 Prozent) und Rosmarinsäure (1,7 Prozent), Saccharose (12,8 Prozent), Malonsäure und in geringer Menge Flavonoide.
Auch die Wurzeln enthalten Saponine, und zwar mit einem Gehalt von 6 bis 11 Prozent, daneben Gerbstoffe, Bitterstoffe und ätherische Öle.
Wer sich einen Tee für leichte Katarrhe der Atemwege zubereiten möchte:
1 TL der getrockneten Blätter mit 200 ml kochendem Wasser übergiessen, 10 Minuten ziehen lassen, abgiessen. Mehrmals täglich trinken.
Wichtig: Menschen, die blutdrucksenkende Mittel oder Diuretika einnehmen, sollten auf diesen Tee verzichten.
Der Phytomediziner Prof. Heinz Schilcher schreibt, dass aufgrund der Inhaltsstoffe eine weitere Anwendung des Sanikels plausibel ist, nämlich als Mundspülung bei Zahnfleischentzündungen, bei Entzündungen im gesamten Mund- und Rachenraum sowie als Umschlag bei Hautentzündungen, insbesondere verursacht durch Hautpilze.
Auf diese Wirkung weist auch Alfred Vogel in seinen Schriften hin: «Dieses an schattigen Bergwäldern Mitteleuropas oft vorkommende Heilkräutlein hatte früher eine grosse Bedeutung gehabt. In alten Rezepten findet man es sehr oft. In Mundwasser und als Wundkraut. Was äusserlich und innerlich im Leib verwundet ist, kann mit Tee aus frischen Blättern des Sanikels heilen.»
Auflage für äusserliche Wunden:
Frisches Sanikelkraut im Mörser oder mit einem Mixer zerkleinern und für etwa 15 Minuten auf die zu behandelnden Hautstellen auflegen. Etwa dreimal täglich wiederholen.
Bei Katarrhen der Luftwege und auch gegen Zahnfleischbluten lässt sich eine Tinktur machen (alkoholischer Extrakt):
Frisches Sanikelkraut zerkleinern und in einem verschliessbaren Gefäss die fünffache Menge 45-prozentigen Alkohol (Ethanol) dazugeben. Ansatz drei Wochen ziehen lassen, ab und zu schütteln. Feste Bestandteile dann absieben und die fertige Tinktur in dunkle Fläschen abfüllen. Bei Bedarf dreimal täglich 20 Tropfen einnehmen oder mit Wasser als Gurgelmittel benutzen.
In gewissen Schriften wird auch die Anwendung bei Darmblutungen, Ruhr und Nierenblutungen empfohlen; von einer solchen Anwendung rät Prof. Schilcher jedoch dringend ab.
Eine ganz spannende neue Beobachtung gab es zum Einfluss des Sanikels auf bestimmte Viren. Für Sanikelzubereitungen wurde eine Wirkung gegen Influenza-A-Viren und auch gegen das Parainfluenza-Virus Typ 2 festgestellt, wenn auch nur im Reagenzglas.
Der Sanikel hat eine grosse Verbreitung und gedeiht in Europa, Nordafrika, Kleinasien, im Kaukasus, Iran bis nach Sibirien. In Europa ist er vom Mittelmeergebiet nordwärts bis nach Skandinavien beheimatet. In der Schweiz findet man ihn im ganzen Mittelland, im ganzen Jurabogen von Genf bis nach Schaffhausen, in den Voralpen und Alpen und im südlichen Tessin. In den Walliser Südtälern, in der Zone vom Oberwallis zum westlichen Graubünden und im nördlichen Tessin ist er sehr selten, im Engadin fehlt er ganz. Wer ihn also selber suchen und sammeln möchte, findet auch mit diesen Lücken noch viele Regionen, in denen man gute Chancen auf Funde hat.
Sanikel kann man gut auch selbst anbauen. Dafür braucht man, gemäss seinem natürlichen Lebensraum, ein schattiges oder halbschattiges Beet. Hier sät man im Spätsommer die gesammelten Früchte. Alternativ kann man auch einen Wurzelstock teilen. Ganze Pflanzen setzt man zwischen Oktober und April in einem Abstand von etwa 20 bis 30 Zentimetern. Da die Pflanze gerne frische Böden hat, sollten diese nicht austrocknen; je nach Standort sollte man also hie und da wässern. Wichtig ist, einen fruchtbaren und humosen Boden zu haben. Man kann im Frühjahr auch etwas Kompost oder Dünger zufügen.
Die grundständigen Blätter des Sanikel sammelt man am besten von April bis Juli. Das Problem mit solchen Wild-Sammlungen ist, dass der Gehalt an Wirkstoffen nicht bekannt ist und um mehr als das sechsfache schwanken kann. Zudem muss man achtgeben, dass man den Sanikel nicht mit der Kleinen Sterndolde (Astrantia minor) verwechselt.
Der Wald-Sanikel ist eine recht unscheinbare Pflanze, die in Laubwäldern, seltener in Tannenwäldern und in Gebüschen, wächst und bis auf eine Höhe von etwa 1400 Metern vorkommt. Er wächst auf basischen (kalkreichen) und eher nährstoffreichen Böden. Die Doldenblüten sind weiss oder rosa und stehen in vielblütigen, kugeligen Köpfchen. Die grundständigen Blätter sind lang gestielt und bis gegen den Grund radiär fünfteilig, seltener dreiteilig.
Der Begriff Sanikel bezeichnet nicht nur die Art (Wald-Sanikel), sondern auch die Gattung Sanikel. Zu ihr gehören weltweit mehr als 40 Arten, von denen zahlreiche in Nordamerika und in Ostasien zu Hause sind. Einige Arten sind überaus selten und gedeihen nur in kleinen Gebieten. Beispiele sind der Azoren-Sanikel und Sanicula mariversa, eine Art, die man nur in den Waianae-Bergen auf der Insel Oahu im Pazifik findet. Im englischsprachigen Raum heissen viele Sanicula-Arten black snakeroot, also Schwarze Schlangenwurz.
Der Maryland-Sanikel (Sanicula marilandica), in Nordamerika weitverbreitet, wurde von den Ureinwohnern verwendet, um bei Verschlucken von Giften das Erbrechen herbeizuführen, aber auch als Laxativum (Abführmittel), gegen Menstruationsschmerzen, bei Nierenproblemen und bei Rheuma.
Auch Alfred Vogel hat den Sanikel sehr geschätzt: «Ich habe dies selbst in meiner Jugend erlebt», schrieb er in den «Gesundheits-Nachrichten», «wenn irgendeine Wunde nicht heilen wollte, dann haben uns unsere Eltern in den Wald geschickt, um die oben schön glänzenden Blätter von Sanikel zu suchen. Diese wurden dann überbrüht, auf die Wunde gelegt und mit Tüchlein festgebunden.»
Für die Heilwirkung bei Entzündungen durch Hautpilze gibt es in Alfred Vogels Schriften eine eindrückliche Geschichte. Er notierte:
«Dieser Tage bekomme ich nun von einem alten Freund aus dem Tessin folgende Mitteilung: ‹Unser Sohn Bruno ist einmal auf dem See von einem Insekt gestochen worden, das wahrscheinlich vorher auf einen toten Fisch gesessen ist. Es gab eine Blutvergiftung, und der Arzt, den er aufsuchte, erkannte sofort, dass es sich um eine Vergiftung handelte. Sein Zustand verschlechterte sich immer mehr und er schwebte in der Gefahr, seine Hand zu verlieren. Das war an einem Samstag. Am Sonntag kamen wir dann zufällig nach Minusio, wo er wohnte. Wir rieten ihm, sofort Sanikeltee zu machen und die Hand darin zu baden.
Nach jeweils 20 Minuten sollte ein frischer Tee für das Bad zubereitet werden. Das macht er dann für circa fünf Stunden lang, bis die Schmerzen so weit nachliessen, dass er wenigstens schlafen konnte. Am Montagmorgen war der Arzt zur Stelle und ganz erstaunt, dass die Geschwulst stark nachliess und fragte ihn nach dem Grund der erstaunlichen Besserung. Der Arzt erwähnte nun, man solle aus diesem Heilkraut ein Produkt herstellen, wenn man davon solche Wunder erwartet. Bruno fuhr mit den Bädern weiter fort, und am folgenden Donnerstag konnte er wieder arbeiten.
Ein ähnliches Erlebnis hatten wir mit einem Waldarbeiter, den wir selbst behandelten. Nach unserer Meinung und Erfahrung wird der Sanikeltee viel zu wenig empfohlen und gebraucht.
Das Gleiche erlebten wir bei schweren Insektenstichen, wobei wir zuerst auf die Stichstelle mit frischen, gequetschten Efeublättern kräftig eingerieben haben. In der Regel lässt der Schmerz nach. Danach sollte man mit Sanikeltee entweder Auflagen oder eben die erwähnten Bäder machen.
Mit solchen Anwendungen muss man so lange fortfahren, bis der Körper mithilfe der im Sanikel enthaltenen Heilstoffe das Gift abgebaut und neutralisiert hat.»