Ihr Schulzimmer hat weder Dach noch Wände, als Unterrichtshelfer dienen Steine und Stecken, und die Lehrerin lädt zum Mittagessen vom Lagerfeuer. Derzeit besuchen Schweizer Primarschulkinder die ersten Waldschulen Europas.
Erinnern Sie sich noch an die ersten Waldkindergärten? Der erste anerkannte Waldkindergarten in Deutschland startete 1993 in Flensburg, in Brütten bei Winterthur wurde 1998 der erste Waldkindergarten der Schweiz gegründet. Zwanzig Jahre ist das also her. «Eine rot-grüne Schnapsidee!», wetterten damals die Gegner. «Endlich gehen unsere Kinder wieder in den Wald!», freuten sich die Befürworter. Inzwischen haben sich die Waldkindergärten in der deutschsprachigen Bildungslandschaft fest verwurzelt. Seit kurzem gibt es gar die ersten öffentlichen Waldkindergärten, die Kindern aus allen sozialen Schichten offen stehen.
Von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat sich in den letzten Jahren eine weitere Neuerung ihren Weg gebahnt: In der Schweiz sind die ersten Waldschulen Europas entstanden. Hier können Kinder der ersten bis sechsten Primarklasse (diese Schulstufe besuchen Kinder von etwa sechs bis 13 Jahren) dem Unterricht an einem bis vier Wochentagen in der freien Natur folgen.
Eine solche Bildungsstätte ist die «Schule am Wald» in Zürich-Witikon. Ihre Gründerinnen Martina De Lusi (38) und Nannette Bratteler (39) hatten zuvor als Lehrerinnen an herkömmlichen Schulen beobachtet, dass sich der Unterricht im Freien äusserst positiv auf die Kinder auswirkt. «Befreit von Stuhl und Bank sind die Kinder ausgeglichen, interessiert, motiviert und voller Tatendrang», sagt Martina De Lusi.
Autorin: Petra Horat Gutman, 5/15
Jeden Dienstag um acht ziehen die beiden Lehrerinnen mit «ihren» vierzehn Buben und Mädchen in den Zolliker Wald – bei jeder Witterung, auch wenn es regnet oder schneit. «Das Wetter ist für Kinder selten ein Thema», erklärt Nannette Bratteler. «Sie sind draussen so in ihre Aktivitäten vertieft, dass sie sich weder an Regen noch an Schnee oder Kälte stören.»
Immer mit dabei: Die beiden Mischlingshunde Leo und Nepomuk. «Sie bringen den Kindern viel Freude. Die Kinder lieben sie, und sie lieben die Kinder», erklärt Martina De Lusi. «Der Hund ist das einzige Tier, das ganz auf den Menschen bezogen ist. Deshalb ist er wie kein anderes Tier geeignet, Beziehung, Vertrauen und Respekt vor dem Anderen zu vermitteln.» Die blosse Anwesenheit von Leo und Nepomuk reiche, um die Atmosphäre zu entspannen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Sehr aktive Kinder würden ruhiger, wenn die Hunde dabei seien; zurückgezogene Kinder kämen mehr aus sich heraus.
Sobald die Klasse ihre Destination im Wald erreicht hat – etwa den Sonnenplatz, den Regenplatz oder das Waldsofa – verzehren die Kinder das mitgebrachte «Znüni» und lernen dann bis kurz vor Mittag voller Hingabe. Sie sammeln Steine und Tannzapfen, um mit ihnen zu zählen und zu rechnen, legen mit Stecklein Buchstaben und geometrische Formen auf dem Moos aus, vergleichen und besprechen ihre Werke, wiegen Steine, vermessen Baumstämme und Wurzelstöcke und erfahren, was «ein Kilometer» ist, indem sie schrittezählend tausend Meter gehen. Alles ist sinnlich greifbar und praxisorientiert.
Das gilt auch für das Mittagessen. Statt rasch ein Sandwich oder eine Fertigmahlzeit zu verzehren, wird das Essen gemeinsam frisch zubereitet: Die Kinder holen die Kochutensilien aus dem mitgeführten Leiterwagen, sie putzen und rüsten Karotten und Salat, sammeln Holz, zünden ein Feuer an und kochen Getreide oder Teigwaren. Nach dem Essen werden Besteck, Geschirr und Kochutensilien wieder im Leiterwagen verstaut. Dort sind auch Seile, Blachen, Hängematten und Werkzeuge untergebracht – von der Ahle über den Bohrer bis zu Hammer und Säge.
Nach dem Essen sind freies Spiel und Basteln angesagt. Begeistert wühlen die Kinder im Waldboden, sägen, hämmern und denken sich Spiele aus – etwa das «Wald-Restaurant», in dem Beeren, Nüsse und Wildkräuter auf Blättern serviert werden.
Bezahlt wird mit Steinchen, Tannenzapfen und anderen kleinen Schätzen, die der Wald hergibt. Gegen zwei geht's weiter mit dem Unterricht: Die älteren Kinder halten Präsentationen, die kleineren lauschen gebannt. Über den Köpfen zwitschern die Vögel, die Sonne blitzt durchs Laub, es riecht nach Erde und Holz. Zwischen den Präsentationen toben sich die Kinder kurz aus und konzentrieren sich danach erneut auf ihre Aufgaben. Auch Hefte, Stifte und Blätter sind in den Wald mitgekommen. Sie bleiben nur bei Regen zu Hause.
Halb vier. Die Atmosphäre im Schulzimmer unter 20 Meter hohen Buchen, Fichten und Tannen ist entspannt. «Wir sind hier ebenso glücklich wie die Kinder», sagt Nannette Bratteler, während die Kinder ihre Sachen zusammensuchen, um gemeinsam nach Hause zu ziehen – zufrieden und voller Energie.
Die Lehrerinnen der Waldschule werden öfters gefragt, ob ihre Kinder nicht Probleme beim Übertritt in die Oberstufe hätten. Das Gegenteil treffe zu, sagen De Lusi und Bratteler. Ihre Schüler hätten den Wechsel ans Gymnasium und die Sekundarschule bisher immer problemlos geschafft. «Die Naturpädagogik reduziert den Lehrplan ja nicht. Sie bereichert ihn und vermittelt den Kindern wichtige Kompetenzen fürs Leben.»
Tatsächlich belegen internationale Studien, dass das Spielen und Lernen in der Natur vielfältige positive Wirkungen hat: Es stärkt die körperliche und die emotionale Widerstandskraft, verbessert die motorischen Fähigkeiten und fördert die Kreativität sowie die Fähigkeit des flexiblen Problemlösens.
Auch Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störung ADHS lassen sich durch eine naturnahe Erziehung reduzieren. Andere Forschungsarbeiten unterstreichen die überdurchschnittliche Förderung der Kommunikationsfähigkeit. Laut Experten dürfte dies damit zusammenhängen, dass «Waldkinder» mangels vorgefertigtem Spielzeug selbst Aktivitäten und Spiele ausdenken und miteinander aushandeln müssen.
Hinzu kommt, dass Lösungen im Wald meist nur gemeinsam umgesetzt werden können – etwa für den Bau einer Hütte oder das Stauen eines Bachs. Fest steht, dass Kinder in der Natur Erfahrungen machen können, die sie angesichts der technisierten und digitalisierten Welt dringend brauchen, wie der deutsche Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor Dr. Herbert Renz-Polster erklärt: «Man braucht nur zu beobachten, wie Kinder in der Natur aufblühen. Im unstrukturierten, natürlichen Umfeld werden sie zu wirklichen Entdeckern und Gestaltern. Sie bauen Beziehungen auf zu Orten, zu Bäumen, Pflanzen, Tieren, Menschen. Da entwickelt sich Geborgenheit und oft ein Gefühl von Heimat. Natur ist für Kinder ein enorm wichtiger Entwicklungsraum, auch um in aller Freiheit ihre Grenzen zu erfahren und sich an Widerständen zu üben.»
Dass die Natur den Kindern gut tut, spüren auch die Eltern, die ihre Sprösslinge in die Waldschule schicken und dafür die «Schlammkluft» der Kinder und die höheren Schulgebühren der privat finanzierten Bildungsstätten in Kauf nehmen. Hauptsache, ihre Kinder können mit allen Sinnen in einer natürlichen Umgebung lernen!
Dennoch wecken Waldschulen auch Ängste. Lehrer und Behördenvertreter befürchten etwa, dass die Kinder in der Natur «schwer kontrollierbar» seien. Laut Martina De Lusi und Nannette Bratteler lässt sich diese Gefahr durch ein einfaches Gegenmittel reduzieren: «Klare Regeln, die konsequent durchgesetzt werden.» An ihrer Waldschule lautet eine dieser Regeln, dass Holzstecken nicht als Waffen benutzt werden dürfen, sondern ausschliesslich konstruktiv, also zum Beispiel als Baumaterial, Zeigestäbe oder Grillspiesse.
Des Weiteren gibt es zahlreiche Eltern, die den Kontakt zum Wald selber weitgehend verloren haben und sich vor Zecken, Giftpflanzen und Unfallgefahr fürchten, die im Wald auf die Kinder «lauern». Herbert Renz-Polster sagt dazu: «Viele Eltern haben kein Problem damit, ihre Kinder im Skiurlaub die schwarzen Pisten runterfahren zu lassen, obwohl dort viel mehr passieren kann. Die meisten Gefahren beim Spielen im Wald sind dagegen gut kontrollierbar.»
Die Zeckengefahr könne man zum Beispiel durch einen abendlichen «Körpercheck» bannen, Vergiftungen durch Waldbeeren oder Pflanzen seien Raritäten. Auch Unfälle kämen im Wald viel seltener vor als in Innenräumen und auf Schulhöfen, wo der Kopf rasch an einer Tischkante oder auf Beton aufschlage. «Ausserdem erwerben die Kinder draussen ja auch Kompetenzen. Sie werden geschickt und stark. Das schützt vor Risiken.»