Die menschliche Stimme ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Wie sie entsteht, was sich aus ihr lesen lässt und was sie fit hält.
Autorin: Gisela Dürselen, 03/19
Im Kehlkopf wird ein Ton produziert, in den Resonanzräumen oberhalb des Kehlkopfs, in Rachen-, Mund- und Nasenraum, wird er vollendet: Luft aus der Lunge strömt durch die kleine Ritze zwischen den Stimmlippen im Kehlkopf hindurch, Luft und Muskelbewegungen bringen die Stimmlippen zum Schwingen. Ein Ton entsteht und bekommt in den Resonanzräumen sein Volumen. Dies ist die Kurzversion eines in Wirklichkeit hochkomplexen Vorgangs.
Stimmhöhe und -melodie, Lautstärke, Tempo und Klangfarbe: Die vielen Nuancen, die eine Stimme so unverwechselbar machen, können sich im Laufe eines Lebens verändern. So sollen sich zum Beispiel Krankheiten aus der Stimme ablesen lassen: Seit Längerem ist bekannt, dass depressive Menschen oft monoton und langsam sprechen. An Verfahren für die Diagnose weiterer Krankheiten (z.B. ADHS und Parkinson) anhand der Stimme arbeiten mehrere Forschergruppen.
Auch bei gesunden Menschen lässt sich einiges aus der Stimme ablesen, denn Hormonhaushalt und körperliche Verfassung des Atem- und Stimmapparats wandeln sich: Beim Stimmbruch wachsen Kehlkopf und Stimmlippen von Heranwachsenden – die Stimme wird tiefer. Mit dem Alter können die Stimmlippen dünner werden und an Muskelmasse und Elastizität verlieren, der Kehlkopf kann verknöchern, die Kraft der Lungen nachlassen. Dann verliert auch die Stimme an Volumen. Bei Männern passiert dies häufiger als bei Frauen: Die Stimme ermüdet schneller, sie klingt leise, manchmal zittrig, hauchig, heiser. Mitunter wechselt die männliche Stimme gar in die Fistellage, den sogenannten Greisendiskant. Bei manchen sind solche Veränderungen schon ab dem 50. Lebensjahr hörbar, andere hingegen behalten ihre klare, resonanzreiche Stimme bis ins hohe Alter.
Stimmveränderungen sind ganz normal, denn mit dem Körper altern auch die Stimmorgane. Viele Senioren wollen sich jedoch nicht damit abfinden: «Sie sind aktiv, wollen sich in die Gesellschaft einbringen und dort auch Gehör finden», sagt Dr. Jörg Bohlender, Leiter der Abteilung Phoniatrie und Klinische Logopädie am Universitätsspital Zürich. Bei milden Symptomen kann eine Stimmtherapie helfen, um die Muskeln des Stimmapparates zu stärken. Immer mehr Patienten aber unterziehen sich einem «voice lifting». Diese Behandlungsmethode ist in den USA schon längst Trend: Die Stimmlippen bekommen ihr früheres Volumen wieder, indem etwa (wie am Universitätsspital Zürich) körpereigenes Bauchfett injiziert wird.
An der Grazer Med Uni gehen Wissenschaftler noch einen anderen Weg: Sie testen, wie die Muskeln der Stimmlippen durch gezielte Elektrostimulation wieder aufgebaut werden können. Dies erspart Patienten einen operativen Eingriff, und die natürliche Anatomie des Kehlkopfs bleibt unverändert.
Ins Universitätsspital Zürich kommen nicht nur Senioren. Oft sind es Menschen in sogenannten sprechintensiven Berufen: Pfarrer, Lehrer und Leute, die im Callcenter arbeiten. Sie klagen über Symptome wie hartnäckige Heiserkeit, dauerndes Räuspern, das Gefühl eines Klosses im Hals oder einfach nur darüber, dass sich das Reden anstrengend anfühlt. An erster Stelle steht dann die gründliche Diagnose. Denn diese entscheidet, ob die Beschwerden organische Ursachen haben oder funktionell sind. Letzteres ist der Fall, wenn der Stimmapparat zwar gesund ist, jedoch falsch benutzt wird. «Etwa, weil die Muskeln um Kehlkopf und Stimmlippen zu viel oder zu wenig angespannt werden oder weil versucht wird, in einer anderen als der eigenen Stimmlage zu sprechen», so Dr. Bohlender. Psychische Ursachen können ebenso eine Rolle spielen: Wenn etwa Stress die Atmung behindert oder Nacken und Kiefer verspannt.
Eine Therapie ist auch dann nötig, wenn keine organische Ursache vorliegt. Denn nach Dr. Bohlenders Erfahrungen ist die Grenze zwischen funktionellen und organischen Störungen fliessend, da eine dauerhafte Fehlbelastung den Stimmapparat nachhaltig schädigen kann.
Wirksame Therapien gebe es für jedes Beschwerdebild und jede Ursache. Wichtig sei vor allem eine gute Abstimmung zwischen Ärztinnen und Logopäden, weil im Laufe der Therapie die Erstdiagnose vielleicht nicht mehr zutreffend sein könne.
Anders als in Deutschland setzen Ärzte in der Schweiz laut Dr. Bohlender auf eine kürzere Therapiezeit. Dies funktioniere mit einem individuellen Trainingsprogramm nach dem Motto «Hilfe zur Selbsthilfe». Am Universitätsspital Zürich besteht diese aus etwa fünf bis zehn von der Krankenkasse bezahlten Therapiestunden mit Aufgaben für zu Hause und einer engmaschigen Kontrolle. «Manchmal genügen schon kleine Verhaltensänderungen», sagt Dr. Bohlender.
Auch wer keine Beschwerden hat, kann viel für seine Stimme tun: Eine gesunde Lebensführung und ausreichend trinken sind sinnvoll. Zusätzlich gibt es eine Fülle an einfachen Übungen, die jeder in seinen Alltag integrieren kann. Einige davon stellt die Wiener Stimm- und Sprechcoachin Brigitte Ulbrich, Mitglied in der Österreichischen Gesellschaft für Logopädie, Phoniatrie und Pädaudiologie, vor.
Brigitte Ulbrich empfiehlt zum Aufwärmen am Morgen zunächst eine Aktivierung des Körpers: strecken und dehnen! Besonders für die Sprechorgane sei Aufwärmen ein Muss: «Gähnen Sie, flattern Sie mit den Lippen. Wenn Sie jeden einzelnen Zahn mit der Zungenspitze abtasten, mit der Zunge die Zähne ‹putzen›, sprechen Sie danach geläufiger. Kräftigen Sie die Atemmuskulatur, pusten Sie eine (gedachte) Kerze mehrmals aus, hecheln Sie ein paar Mal, um das Zwerchfell zu aktivieren: Jetzt können die Stimmbänder den Tag mit einem sanften Summen und Brummen beginnen.»
Auch zwischendurch sei das Aufwärmen geeignet, um gut bei Stimme zu bleiben. Bei Lampenfieber helfe es, ein paar Mal bewusst auszuatmen, um gelassener und damit souveräner zu sprechen. Und dann: keinesfalls räuspern, das schädige die Stimmbänder und mache heiser. Stattdessen: «Schlucken und summen Sie. Auch die Kehlkopfmuskulatur entspannt, die Stimme klingt etwas tiefer und voller; die Atmung fliesst frei. Immer wieder genüsslich auf ‹mmm› zu summen, lässt die Stimmbänder angenehm vibrieren.» Und: «Machen Sie öfter mal eine Sprechpause, kommen Sie auf den Punkt», empfiehlt die Expertin, «damit Sie stimmlich gut ankommen».
Wie Brigitte Ulbrich coacht auch die Zürcher Stimm- und Musiktherapeutin Dana Stratil bei Stimmproblemen immer den ganzen Menschen. Denn Stimmentfaltung habe etwas mit der Persönlichkeit zu tun: «Um kompetent klingen zu können, fördern wir die innere Einstellung zu uns selbst und dem Gegenüber und setzen unseren Körper als Instrument ein. Die Stimme kommt nicht nur aus dem Kehlkopf, sondern aus dem ganzen Körper: Wir reden vom Kopf bis zu den Zehenspitzen», sagt Dana Stratil. Nach ihren Erfahrungen sprechen viele Menschen zu schnell und zu hoch, mit Enge in der Kehle, nicht mit den Resonanzräumen des ganzen Körpers. Sie atmen in die Brust anstatt in die Flanken und den Bauch. Dadurch wirke die Stimme gepresst und signalisiere dem Gegenüber: «Ich bin unter Druck.»
Um diesen Überdruck loszulassen und in Kraft zu verwandeln, arbeitet Dana Stratil gerne mit Obertönen. Diese sind in jedem Ton vorhanden – in den von einer Kaffeemaschine erzeugten Geräuschen ebenso wie im Knattern eines Traktors und im Klingen einer menschlichen Stimme. Jeder existierende Ton besteht aus einem Grundton und mitschwingenden höherfrequenten Obertönen. Im Alltag werden sie aber nicht getrennt vom Grundton wahrgenommen, weil dieser permanent wechselt und in der gesprochenen Sprache die Aufmerksamkeit auf dem Inhalt liegt.
«Bewusst wahrgenommen werden Obertöne nur im Gesang. In der westlichen Art des Obertonsingens geschieht dies, indem Vokale und Umlaute sorgfältig geformt getönt werden», sagt Dana Stratil.
Dazu bietet sie Übungen wie diese an: Zu einem stabilen Grundton werden Vokale intoniert und ganz langsam gewechselt – zum Beispiel hohe Obertöne von «i» zu «ü» – oder tiefe Obertöne von «u» zu «o» zu «a» – und wieder zurück. So lange, bis durch Übung die Obertöne gesondert vom Grundton hörbar werden und ein Gefühl von Mehrstimmigkeit entsteht.
Dana Stratil ist selbst Obertonsängerin und weiss von der besonderen Kraft dieser Töne: «Obertonsingen wirkt sehr entspannend, erhebend auf die Psyche und regenerativ fürs Gehirn.» In der gesprochenen Sprache aktiviert sie die Obertöne durch eine deutliche Aussprache von Silben, weil jeder Vokalklang seine eigenen Obertöne habe. Dazu empfiehlt sie, Sätze zu sagen wie: «Ingrid pflückt im Frühling immer schöne Blüten.» Bei einer guten Ausformung dieser Vokale vibriere der Schädel mehr. «Die Sprache erhält mehr Klangfarbe – und der Mensch mehr Möglichkeiten, seinen ganzen Schatz an Gefühlen auszudrücken.»
Obertöne verstärkt zu hören, verändere die gesamte auditive Wahrnehmung im Alltag und im Umgang mit Musik, sagt der Musiker, Obertonsänger und Klangkünstler Christian Zehnder. «Bei der Beschäftigung mit Obertönen wenden wir uns der Gesamtheit und allen Aspekten des Klanges zu. Es ist eine Art archaische Bewusstseinserweiterung.»
Genauso wie beim Johlen, Jodeln und dem Juutzen, dem Rufen mit freier Stimme: Diese sind laut Zehnder vorsprachliche Kommunikationsformen und Ausdruck einer authentischen Verbindung des Menschen mit seiner Umgebung. «Die Landschaft prägt unseren Geist, den Körper, die Stimme. Jede Kultur kennt auf ihre Weise den Kehlschlag, den Jodel eben.» Er sei die urtümlichste Ausdrucksform und es gebe ihn in allen Kulturen der Welt – in verschiedenster Ausprägung. Sogar im Popgesang werde gejodelt, nur eben anders als im alpinen Raum.
Nicht jeder kann seiner Stimme freien Lauf lassen. Manch einer denkt, er könne nicht singen. Für Christian Zehnder sind solche Einwände nur kulturell konditioniert und meist irrational. Er rät, am Anfang unter die Dusche zu gehen, das Prasseln des Wassers zu geniessen und sich aufs Tönen einzustimmen. Das Wichtigste sei, einen Ort zu finden, an dem man sich geschützt fühle. Auch beim Wandern könne man loslassen und einen Freudenruf zulassen; bei einem Bach oder Wasserfall könne man johlen. «Singen ist etwas Intimes geworden. Immer mehr Menschen schämen sich. Unsere Gesellschaft hat den Laut verbannt. Man hat leise zu sein in einer lauten Welt.»
In seinen Kursen bringt Christian Zehnder gerne ganz verschiedene Leute zusammen. Fern von jeglichem Anspruch könne die Stimme ein berührendes Ereignis sein. «Vielleicht ist das mein wertvollster Beitrag als Sänger und Lehrer: Den Menschen wieder seine eigene, persönliche Stimme erfahren zu lassen.»