Einsamkeit, sagen Forscher, ist genauso schädlich wie Übergewicht, Rauchen oder Bewegungsmangel. Doch es gibt Strategien, die innere Isolation zu überwinden.
Autorin: Judith Dominguez, 11/17
Sie schliessen sich in Gruppen zusammen und bilden komplexe Gesellschaften. Jeder möchte gerne dazugehören. Frisch geborene Menschenkinder suchen schon die Berührung mit der Mutter. Später wenden sich die Jugendlichen zwar von der Familie ab, ihrer Peergruppe (Gruppe der Gleichaltrigen) aber zu. Die Liebe verbindet Paare, in deren Schutz der Nachwuchs aufwächst. Dazugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen – und über längere Zeit isoliert zu sein, macht krank.
Die Wichtigkeit des sozialen Lebens ist entwicklungsgeschichtlich bedingt. Für unsere frühen Vorfahren war die Gruppe überlebensnotwendig. Einzelgänger hatten bei den vielfältigen Gefahren kaum eine Überlebenschance. Zwar hat sich gesellschaftlich seither fast alles verändert, doch diese Prägung ist noch immer wirksam. Und so reagieren wir heute auf Ablehnung und Zurückweisung enorm empfindlich. Wir wollen den anderen gefallen, wir wollen gut ankommen. Zeigt uns jemand die kalte Schulter, sind wir verletzt.
Von Mitmenschen abgelehnt werden, führt zu Gefühlen des Verlassen- und Einsamseins. Damit dies gar nicht erst eintritt, vermeiden gerade scheue Menschen soziale Kontakte. Sie ziehen sich zurück, wollen möglichst wenig auffallen, und sie haben Angst vor dem Urteil anderer. Das erschwert es zusätzlich, neue Kontakte zu knüpfen.
Sich einsam fühlen, kann jedem passieren. Während die einen ein Leben lang betroffen sind, spüren es andere nur in bestimmten Situationen. Spricht die junge Mutter mit dem Nachbarn ein paar Worte, versucht das Kleinkind mit lautem Rufen und Schreien die mütterliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dahinter steckt die uralte Angst vor dem Verlassenwerden.
Später im Leben kommen dann tiefe Enttäuschungen hinzu, es häufen sich Trennungserlebnisse. Wir sind frustriert, denn weshalb auch immer wir diese Verbundenheit verloren haben, so hofften wir ja doch auf ein ewiges Fortbestehen. Wir bleiben allein mit dem schmerzlichen Verlust, und nagende Einsamkeitsgefühle hängen wie dicke, schwarze Gewitterwolken über unserem Leben.
Dazu kommt, dass die Zugehörigkeit zur traditionellen Kernfamilie längst nicht mehr so stabil ist wie vor Jahrzehnten noch. In den Städten und zunehmend auch im dörflichen Umfeld wächst die Anonymität. Kennt man die eigenen Nachbarn nicht, geht eine wichtige Möglichkeit sozialer Begegnungen verloren.
Besonders von Armut betroffene Menschen vereinsamen leicht, denn ohne ausreichendes Einkommen ist es schwer, am sozialen Leben teilzunehmen. Das spüren Kinder überaus schmerzlich, wenn sie z.B. nicht wie alle andern zu einer grossen Geburtstagsparty einladen dürfen. Oder denken wir an die alleinerziehenden Mütter, die zwischen Brot- und Familienarbeit hin und her eilen. Da bleibt wenig Zeit für den Bekanntenkreis übrig. Doch Freundschaften muss man pflegen, und wer Termine immer wieder absagt, wird irgendwann nicht mehr eingeladen. Mit steigendem Lebensalter nehmen dann die Verlusterlebnisse zu, und die meisten über Hundertjährigen haben längst keine gleichaltrigen Freunde mehr. Wobei es, empirisch gesehen, jedoch nicht unbedingt die alten Menschen sind, die besonders unter Einsamkeit leiden. Hohe Einsamkeitshäufigkeiten finden sich bei Jugendlichen (in der Regel ein «normaler» Entwicklungsprozess während der Ablösung vom Elternhaus) sowie bei 40- bis 50-Jährigen.
Einsamkeit tut weh, physisch wie psychisch. Tatsächlich haben Neurobiologen nachgewiesen, dass körperliche Schmerzen und Einsamkeit die gleichen Hirnregionen aktivieren. Schmerzen indes sind da, um uns zu warnen. Tun wir nicht bald etwas dagegen, werden sie chronisch. Der weltweit versierteste Einsamkeitsforscher, der Psychologe John T. Cacioppo, konnte in Untersuchungen zeigen, dass Einsamkeitsgefühle das Immunsystem beeinträchtigen; Betroffene litten unter häufigen Infekten, Entzündungen, Kopfschmerzen und Herz-Kreislauf-Problemen.
Eine Metastudie, die 148 Untersuchungen mit mehr als 300 000 Probanden zusammenfasste, ergab 2010: Wer sich einsam fühlt und keine stabilen Beziehungen zu anderen Menschen aufbaut, stirbt im Schnitt früher als andere. Einsamkeit ist demnach so schädlich für die Gesundheit wie Rauchen und schädlicher als Übergewicht.
Einsame Menschen haben Forschern zufolge zudem ein fast doppelt so grosses Risiko, an Alzheimer zu erkranken – und einmal krank, schreitet der geistige Abbau schneller voran. Einsamkeit kann sogar «ansteckend» sein: Im Rahmen der Framingham-Herzstudie, einer der wichtigsten epidemiologischen Studien der USA, stellten die Wissenschaftler fest, dass einsame Menschen ihre Bezugspersonen mit ihren Einsamkeitsgefühlen dergestalt beeinflussen, dass auch diese zunehmend ihre Sozialkontakte verloren.
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Einsam sein hat nichts mit der Anzahl sozialer Kontakte zu tun. Die Einsamkeit entsteht aus enttäuschten Hoffnungen und aus Erwartungen an das Verhalten der anderen. Wer einsam ist, fühlt sich ungerecht behandelt. Zugegeben, der Verlust geliebter Menschen ist keine Kleinigkeit, und allein sein fällt nicht jedem leicht. Doch der Aufwand, die Einsamkeit zu überwinden und alle Ansprüche an die anderen fallen zu lassen, lohnt sich. Wer sich aus den Fängen eigener Vorstellungen über gelungene Beziehungen befreit, kann tolerant und offen auf andere zugehen.
Allein sein heisst, ganz bei sich selbst sein, mit sich zufrieden sein und sich selbst zu genügen. Ein Erwachsener sollte es eine Weile nur mit sich selbst aushalten können, ohne sich zu ängstigen oder zu langweilen. Denn mit sich selbst zurechtzukommen, auch in schwierigen Lagen, ist ein Zeichen von psychischer Reife.
Das wohlige Gefühl der sozialen Verbundenheit ist für jeden verfügbar. Doch man muss sich schon ein bisschen anstrengen. Beginnen Sie mit etwas Kleinem, dem Wechselgeld im Automaten zum Beispiel. Lassen sie dieses für Obdachlose und neugierige Kinder liegen. Stellen sie sich die Freude des Finders vor, beobachten Sie, wer die Münzen nimmt, schenken Sie diesem Menschen ein Lächeln. Auch ein Gespräch am Gartenzaun kann Auftrieb geben. Tragen Sie der schwangeren Nachbarin die schwere Einkaufstasche hoch, grüssen Sie den Buschauffeur mit einem freundlichen guten Morgen, halten Sie einen kleinen Plausch mit der Kassiererin im Supermarkt. Oder stellen Sie ihre Zeit und Fähigkeiten für Freiwilligenarbeit zur Verfügung. Dort lernt man engagierte Menschen kennen, die nicht reich, sondern gerecht und sozial eingebunden sein möchten.
Nette Kontakte lassen sich auch über seriöse Internet-Plattformen finden. Das muss nicht gleich in die grosse Liebe münden, sondern kann einfach ein Draht zu Gleichgesinnten sein.
Ist gerade keiner da, der unsere Gesellschaft benötigt: Freuen Sie sich auf Zeit mit sich allein. Je kreativer man das Alleinsein nutzt, desto eher lässt sich chronischer Einsamkeit entkommen. Und: Alleinsein dient auch der Regeneration, man kann Dinge innerlich klären. In vielen Kulturen ist der Rückzug ein wichtiger Prozess.
Psychologen unterscheiden zwei Formen der Einsamkeit:
Der Psychologe John T. Cacioppo empfiehlt mit seinem Leitfaden «EASE» («lindern») vier Schritte, um der inneren Isolation entgegenzuwirken.