Das Gefühl, einsam zu sein, trifft fast jeden einmal. Ausgerechnet im Zeitalter der modernen Kommunikationsmittel geraten mehr und mehr Menschen in einen Zustand der sozialen Isoliertheit und Einsamkeit. Frauen und Männer aller Generationen sind davon betroffen. Wie findet man aus der Einsamkeit heraus?
Kann man sich innerhalb eines Volksfestes einsam fühlen?
Ja, man kann. Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, inmitten vieler Menschen könne man sich unmöglich als verlassen empfinden. Doch gerade angesichts der Geselligkeit rundherum kann das Gefühl mangelnder Zugehörigkeit noch intensiver auftreten. Wie eine niederländische Untersuchung feststellte, ist Einsamkeit weniger ein quantitatives, sondern vielmehr ein qualitatives Phänomen.
Mit anderen Worten: Nicht die Anzahl der Beziehungen ist entscheidend, sondern deren Tiefe und Tragfähigkeit. Wer alleine ist, ist nicht automatisch einsam. Für manche Menschen ist die zeitweilige Distanz zu anderen Menschen sogar ein Bedürfnis. Sie schöpfen neue Energie aus dem gelegentlichen Rückzug.
Einige Berufstätige üben ihre Arbeit ohne Kollegen aus und fühlen sich doch nicht einsam: Nachtwächter, Fernfahrer, Wildhüter und Wanderhirten sind oft stunden- oder tagelang alleine unterwegs. Die Gewissheit, dass zu Hause eine Partnerin und eine Familie warten, wirkt dem Gefühl von Isoliertheit entgegen.
Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist unter den Menschen sehr ungleich verteilt. Während den einen häufige Geselligkeit ein Grundbedürfnis ist, sind andere introvertiert veranlagt und behalten ihre Gedanken und Gefühle weitgehend für sich. Alleinsein fühlt sich in der Regel unangenehm an, wenn der Zustand unfreiwillig ist. Er drückt auf die Stimmung: Ängste, Selbstzweifel und böse Erinnerungen können sich melden. Hält die Einsamkeit lange an, treten oft Gefühle von innerer Leere und von Sinnlosigkeit des eigenen Daseins auf.
Ein weiteres Vorurteil gilt es zu korrigieren: Nicht vor allem betagte Menschen fühlen sich ausgeschlossen, oder einzelne junge Mütter erleben sich mit ihrem Baby als isoliert. Niederländische Forscher haben in allen Generationen ungefähr gleich viele Personen gefunden, die sich als ganz alleine auf sich gestellt empfinden.
Selbst viele Jugendliche fühlen sich vom Umfeld wenig angenommen; dabei wird dieser Gesellschaftsgruppe das Partyfeiern als eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachgesagt. Die modernen, unkomplizierten Kommunikationskanäle wie SMS, Facebook und MySpace tragen wenig zum Rückgang der Einsamkeit bei, wie Experten festgestellt haben: Die Kontakte bleiben meist an der Oberfläche.
1. Die «reaktionelle Einsamkeit» entsteht bei Umstellungen im Leben, wie Mutterschaft, Wohnortwechsel, Arbeitslosigkeit, Pensionierung, Auszug der flügge werdenden Kinder, Verlust des Lebenspartners und auch bei Unfall oder Krankheit. Durch die äussere Veränderung im Leben werden die bisherigen zwischenmenschlichen Beziehungen weniger intensiv oder brechen ganz ab. Das Gefühl von Isoliertheit lässt in der Regel bald nach, sobald sich ein neues Beziehungsnetz entwickelt hat.
2. Die «schleichende Einsamkeit» intensiviert sich kontinuierlich. Zwischenmenschliche Kontakte bestehen zwar, aber die Gespräche bleiben unverbindlich; sie wirken nicht erfüllend und befriedigend. Echte Freundschaften bestehen kaum oder verlieren sich allmählich. Das Gefühl von Isoliertheit nimmt zu.
3. Die «chronische Einsamkeit» besteht über Jahre bis Jahrzehnte. Die Betroffenen sind kaum mehr fähig, von sich aus neue Kontakte zu knüpfen und bestehende zu pflegen. Ursache ist unter Umständen eine depressive Erkrankung, die den Antrieb hemmt, die die Gefühlsvielfalt einschränkt und pessimistische Gedanken über sich selber nährt. Dieses psychische Leiden muss unbedingt ärztlich und/oder psychotherapeutisch behandelt werden.
Chronische Einsamkeit kann auch gesundheitliche Störungen wie Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme, Herzbeschwerden und Immunschwäche auslösen. Schlechte soziale Bedingungen wirken sich ähnlich negativ aus wie Rauchen und Übergewicht.
Eine Auswertung von 20 Studien zum Thema Einsamkeit an der Universität von Chicago kam zu einer aufschlussreichen Feststellung: Um die dauerhafte Isolation zu überwinden, braucht es nicht primär ein grösseres Angebot an Kontaktmöglichkeiten, in erster Linie muss die Einstellung gegenüber sich und den Mitmenschen verändert werden.
Ein häufiges Hindernis ist selbstentwertendes Denken: Man nimmt von sich selbst an, für andere nicht interessant, wichtig und gebildet genug zu sein. Dahinter steckt oft die unzutreffende Vorstellung, andere Menschen wollten sich nur über anspruchsvolle Themen austauschen; jedes Gespräch müsse eine tiefe Bedeutung haben und jeder Kontakt hohe Erwartungen erfüllen.
Um mit anderen in Kontakt zu kommen, muss man kein Expertenwissen besitzen, keine exotischen Länder bereist haben und auch kein bildschöner Mensch sein. Naheliegende Themen, bei denen jedermann mitreden kann, eignen sich für den Auftakt.
Die wechselnden Launen des Wetters oder die Jahreszeiten sind, allen Vorurteilen zum Trotz, gute Anknüpfungspunkte für ein Gespräch. Jedermann erlebt sie ganz persönlich und kann entsprechend mitreden. Das Risiko von Meinungsverschiedenheiten ist gering das Wetter ist kein Thema, das die Menschen polarisiert. Und das Schöne daran: Es bietet eine unverfängliche Gelegenheit, auszuprobieren, ob die Chemie auch für ein anspruchsvolleres Thema stimmen würde. Zu hoch darf man die Erwartungen allerdings nicht gleich setzen: Freundschaftliche Beziehungen brauchen Zeit, um sich entwickeln zu können.
Politik, Religion, Krankheiten und persönliche Probleme sind keine Einstiegsthemen und bleiben grundsätzlich Verwandten und engen Freunden vorbehalten. Mit flüchtigen Bekannten schneidet man diese Gesprächsgegenstände besser nicht an, um nicht die Atmosphäre zu belasten.
Wenn es um eine kurzweilige Plauderei mit anderen Menschen geht, sollte man sich von der mediterranen Mentalität inspirieren lassen. Mit ihrer lockeren Art sind die Bewohner der Mittelmeerländer schnell mit anderen im Gespräch: Sie erkundigen sich nach der Familie, sie erzählen spontan, worüber sie sich soeben gefreut oder genervt haben, schwärmen von den Rezepten ihrer Grossmutter oder sie ärgern sich über den verpassten Sieg ihrer Lieblingsfussballmannschaft. Solche Mitteilungsfreude steckt an und macht gute Laune.
Kommunikationsexperte Dale Carnegie schrieb in seinem Bestseller «Wie man Freunde gewinnt»: «Man kann anderen Menschen kaum ein grösseres Kompliment machen, als ihnen aufmerksam zuzuhören.» Wer sein soziales Netz vergrössern will, sollte weniger die eigene Person in den Vordergrund stellen, sondern sich für die Meinungen, Erfahrungen und Ansichten anderer interessieren. Gute Zuhörer werden sehr geschätzt: Sie fragen nach, haben häufigen Blickkontakt und sind zurückhaltend mit Bewertungen des Gehörten.
Kein Mensch hat etwas gegen ein ehrlich gemeintes Kompliment einzuwenden. Wenn jemand eine schicke Brille, eine hübsche Brosche oder eine besonders geschmackvolle Krawatte trägt, darf man auch Unbekannte ansprechen. Vielleicht entwickelt sich dadurch ein Dialog.
Weitere Anknüpfungspunkte für ein erstes Gespräch sind gemeinsame Interessen: Wer einen entsprechenden Volkshochschulkurs besucht, interessiert sich für Kunstgeschichte, Astronomie oder Literatur. Mit der Frage, was jemand besonders an dem entsprechenden Thema fasziniert, ist ein Gespräch eröffnet. Weitere Gelegenheiten, um mit Menschen mit gleichen Vorlieben in Kontakt zu kommen, sind Vernissagen, Zoobesuche, Singveranstaltungen, Selbsthilfegruppen, geführte Städte- und Kulturreisen sowie Koch- und Tanzkurse.
Sogar beim Gassigehen mit dem Hund, im Fitnessstudio und beim Einkaufen trifft man auf Menschen, die mit dem gleichen Thema befasst sind. Zusammenkünfte von Quartiervereinen oder Nachbarschaftsfeste sind eine gute Gelegenheit, um nach einem Wohnungswechsel neue Kontakte zu knüpfen und am neuen Ort heimisch zu werden.
Der umfassende Gesundheits-Newsletter von A.Vogel erscheint 1 x pro Monat und enthält Informationen, Tipps, Wettbewerbe und vieles mehr – rund um alle Gesundheitsthemen.
Wenn Angesprochene zurückhaltend reagieren, bedeutet dies nicht zwangsläufig Antipathie: Viele Menschen sind grundsätzlich gegenüber Unbekannten vorsichtig. Einige haben negative Erfahrungen gemacht, denn hinter einer Kontaktaufnahme können auch unerwünschte Absichten wie aufdringliches Verkaufen von Produkten oder das Anwerben von Mitgliedern für eine politische Gruppierung stecken. Andere sind in Eile oder werden von beruflichen oder privaten Sorgen geplagt. Sie sind momentan nicht entspannt genug, um sich für eine andere Person zu öffnen. Hinter ihrer Wortkargheit stecken also ganz andere Gründe als Ablehnung, und man sollte sie nicht persönlich nehmen.
Wenn sich neue Kontakte nur zögerlich ergeben, sind manche Einsame schnell überzeugt, dass andere kein Interesse an ihnen haben. Sie geraten damit in eine so genannte «sich selbsterfüllende Prophezeiung»: Jeder gescheiterte Kontaktversuch bestätigt sie in ihrem Vorurteil, dass niemand mit ihnen etwas zu tun haben will. Doch meistens braucht es einfach nur etwas Geduld und Ausdauer, bis sich erfreuliche Bekanntschaften entwickeln.
Will man Einsamkeit überwinden, ist nicht nur bei der Einstellung gegenüber den Mitmenschen eine Korrektur nötig, man sollte auch bei sich selbst anfangen.
Ein gewinnendes Auftreten erreicht man, wenn man mit sich selbst umgeht, wie man es mit einem guten Freund täte: liebevoll, mit Zuneigung, Verständnis und Respekt. Dadurch steigt die eigene Stimmungslage. Wer sich mit sich selbst wohlfühlt, strahlt dies auch für die Umgebung wahrnehmbar aus.
Wie aber kann man gut zu sich selbst sein? Zum Beispiel: Man verzeiht sich Fehler und Schwächen. Man spricht sich selbst Mut zu und nimmt sich an, obwohl man nicht perfekt ist. Man gönnt sich etwas: eine Massage oder eine kosmetische Behandlung, hört schöne Musik, besucht eine unterhaltsame Veranstaltung oder ein stimmungsvolles Konzert.
Auch das eigene Zuhause sollte ein Ort sein, an dem man sich selbst wohlfühlt und wo man auch gerne Gäste empfängt. Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder mal neue Sofakissen mit frischen Farben zu leisten? Wie wäre es mit einer schönen Kerze, stimmungsvollem Licht, einem neuen Bild an der Wand oder einem bunten Blumenstrauss? Ist es an der Zeit für ein neues Geschirrservice oder auch nur ein, zwei Gedecke mit einem besonders hübschen Dekor? Mit ihm wird das Frühstück zum ersten erfreulichen Ereignis des Tages.
Zu einem Dasein, in dem man sich besonders wohlfühlt, gehören erfüllende Beschäftigungen. Die Auswahl ist gross: Aquarellieren, Bildhauern, Heilkräuter sammeln, an Spieleabenden teilnehmen, dekorative Gestecke anfertigen, Tanzen oder ein Musikinstrument spielen lernen. «Einsam ist, wer für niemanden sorgt», sagt ein Sprichwort: Besonders befriedigend ist der karitative Einsatz für andere Menschen, beispielsweise als Helfer bei Ausflügen von behinderten Menschen oder als regelmässige Besucherin von Betagten in einer Senioreneinrichtung. Zwischenmenschliche Kontakte sind dabei sozusagen automatisch inbegriffen.
Autor: Adrian Zeller