Mensch ärgere Dich nicht! Leichter gesagt als getan! Zumal derjenige, der sauer ist, stets das Gefühl hat, sein Ärger sei berechtigt. Doch wer sich wegen jeder Kleinigkeit aufregt, macht sich nicht nur das Leben schwer, er gefährdet auch seine Gesundheit.
Autorin: Ingrid Zehnder
Kennen Sie auch einen Autofahrer (eine Autofahrerin), der (die) wegen jeder Kleinigkeit aufbraust? Verdirbt es ihnen die Laune, wenn von sechs Tomaten in der Packung eine angefault ist? Fuchst es Sie, wenn die Arbeitskollegen Sie wegen eines Fehlers aufziehen? Kränkt es Sie, wenn der Partner Ihnen nicht hilft? Könnten Sie aus der Haut fahren, wenn Ihre Tochter unpünktlich zu Verabredungen mit Ihnen kommt? Macht es Sie wütend, wenn Ihnen der Bus vor der Nase wegfährt?
Die Quellen des Ärgers sind unerschöpflich! Ein bis zwei Mal pro Woche ereilt er uns und hält durchschnittlich etwa eine Stunde an, so die Ergebnisse einer Studie. «Ärger zählt zu den Grundemotionen, er ist eine alltägliche Erfahrung», sagt die Greifswalder Psychologie-Professorin Hannelore Weber. Und er ist beileibe kein Waisenkind, er gehört zu einer ganzen Familie von Emotionen wie Frustration, Wut und Zorn – die Grenzen sind fliessend.
Ärger entsteht im Gehirn, genauer im so genannten limbischen System, der Steuerungszentrale für das emotionale Verhalten. Als Teil des limbischen Systems spielt die Amygdala, ein mandelförmiges System von Nervenkernen, eine wesentliche Rolle bei der Bewertung von Gefühlen, der Wiedererkennung von Situationen und der Analyse möglicher Gefahren: Sie schlägt Alarm, wenn uns jemand quer kommt. Unwillkürlich fährt der Körper sein Stressprogramm hoch: Schübe von Adrenalin und Noradrenalin, den hormonellen Treibstoffen der Erregung, lassen das Herz klopfen, den Puls unregelmässig werden und den Blutdruck in die Höhe schnellen. Gleichzeitig sorgen sie im Bereich der Haut für Gefässverengung und Temperaturerhöhung.
Ärgert man sich häufig, intensiv und lange, steigen die Blutfett- und Zuckerwerte, mit der Zeit werden Herz und Gefässe geschädigt und das Risiko eines Infarktes oder Schlaganfalls wächst. Auch wenn die Zusammenhänge noch nicht völlig klar sind, belegen das inzwischen medizinische Studien. Eine Untersuchung des US-Centers for Disease Control and Prevention an mehr als 13000 Männern und Frauen im Alter zwischen 48 und 67 Jahren ergab: Wer öfter rot sieht, trägt gegenüber ruhigeren Teilnehmern ein fast dreifach höheres Risiko, an den negativen Folgen für das Herz-Kreislaufsystem zu erkranken.
Ärger kann auch auf den Magen schlagen, die Verdauung beeinträchtigen, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit verursachen. Die chinesische Naturheilkunde sieht Zusammenhänge zwischen Gallenproblemen und Ärger und definiert die Gallenblase gar als Organ des Ärgers. Gefahren für die Gesundheit drohen immer dann, wenn der Ärger über Stunden anhält, sich in uns festfrisst und «chronisch » wird oder uns immer und immer wieder auf 180 bringt.
Ärger wirkt sich auf die unwillkürliche und willkürliche Motorik aus. Man runzelt die Stirn, zieht die Augenbrauen zusammen, presst die Lippen aufeinander, schlägt mit der flachen Hand auf einen Gegenstand, ballt die Faust, läuft unruhig auf und ab, stampft mit dem Fuss, wälzt sich im Bett hin und her. Häufig manifestiert sich Ärger auch in Worten. Dem Autofahrer, der einem den Weg abschneidet, wirft man ein empörtes «Idiot» hinterher, obwohl weder er noch sonst jemand einen hören kann.
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Die Fragen, die in der relativ jungen Wissenschaft der Neurobiologie Kontroversen auslösen, heissen: Inwieweit lassen sich Gefühle tatsächlich bewusst regulieren? Lässt sich mit rationalen Methoden tatsächlich mehr als nur der oberflächliche Ausdruck der Gefühle kontrollieren? Oder behalten die Gefühle nicht doch das letzte Wort? Das limbische System als Gefühlszentrale ist nur Teil eines grösseren Netzwerks.
Mit der Hirnrinde, die für das eigentliche «Denken» zuständig ist, bestehen enge Verbindungen.
Der streitbare Professor Gerhard Roth, Neurobiologe an der Universität Bremen, hat für öffentliche Aufregung gesorgt, weil er den menschlichen Willen als Illusion bezeichnete. Seiner Meinung nach sitzen wir nämlich bereits einer Illusion auf, wenn wir meinen, wir seien der rationale Kontrolleur unseres Gefühlslebens. Eher sei das Gegenteil der Fall: Alles, was in den rationalen und kognitiven Teilen des Gehirns bearbeitet wird, müsse auch in den Gefühlszentren des Limbischen Systems bewertet und abgesegnet werden.
Die meisten Psychologen, Neurobiologen und Philosophen sind jedoch der Ansicht, dass letztlich die Gedanken die Gefühle steuern und wir durchaus Einfluss darauf haben, was wir aus unseren Gefühlen machen. Dies befreit uns, weil wir offenbar nicht willenlos von Wellen unkontrollierbarer Emotionen durchs Leben gespült werden. Durch gezielte Aufmerksamkeit, gedankliche und verbale Auseinandersetzung mit unseren Gefühlen kann es dem Verstand gelingen, an Boden zu gewinnen. Zwar ist, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, der Ausgang dieses Kampfes nicht immer ganz eindeutig, doch sollten wir jede Chance nutzen. Wie bei allen anderen Fähigkeiten braucht es dazu allerdings Übung.
Teenager maulen, weil sie das Zimmer aufräumen sollen, den Eltern reisst der Geduldsfaden, weil das Chaos kein Ende nimmt. Ärger ist ein Gefühl, bei dem jeder den Eindruck hat, er erlebe es völlig zu Recht. «Der glaubt wohl, mit mir kann er es machen», «Für wie blöd hält sie mich eigentlich?», «Ich bin doch nicht der Hampelmann für alle anderen», «Ich kann mir schliesslich nicht alles gefallen lassen» – so oder ähnlich sind unsere spontanen Reaktionen auf ärgerliche Situationen. Schauen wir genauer hin, merken wir, dass wir uns ungerecht beurteilt oder nicht ernst genommen fühlen. Wir sind verletzt, weil unser «gutes Recht» nicht respektiert wird, und beleidigt, weil wir glauben, unsere Leistungen würden zu wenig anerkannt.
Oft genug sind nicht andere, sondern wir selbst der Grund des Ärgers. «Ich bin ja selbst schuld, wenn ich mich immer bei dem gleichen Thema ereifere.» «Ich hätte diesen Fehler gleich offen zugeben müssen.»
Ärger kommt immer dann auf, wenn etwas im Leben nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen. Das kratzt an unserem Selbstwertgefühl. Wer sich selbst keine Schwächen und Fehler zugesteht, kann auch an anderen nur schwer ein gutes Haar lassen. Wer sich ärgert, dass er nicht so ist (handelt/reagiert), wie er glaubt sein (handeln/reagieren) zu müssen, übt anderen gegenüber meist auch wenig Nachsicht. Je selbstbewusster man ist, umso gelassener kann man Ärgersituationen umgehen.
Wer seinen Ärger ständig schluckt, setzt sich unter enorme Spannung. Sie führt einerseits zu körperlichen Symptomen wie Schmerzen in Nacken und Rücken, nächtlichem Zähneknirschen oder Magengeschwüren, andererseits zu Unruhe, Nervosität und Gereiztheit. Der entstandene Druck kann sich gefährlich aufstauen – mit der Folge, dass man plötzlich und vollkommen unerwartet explodiert, häufig wegen einer Kleinigkeit, die das Fass zum Überlaufen bringt.
Entgegen der oft wiederholten Behauptung, es sei gesund, den Ärger rauszulassen, haben Forschungen gezeigt, dass das Dampfablassen schlecht für einen selbst und noch schlechter für die Menschen um einen herum ist. Man fühlt sich hinterher nicht besser als vorher.
Ganz im Gegenteil: Wo immer Ärger sich breitmacht, sieht man nicht mehr klar, der körpereigene Hormonmix steigert die innere Spannung so, dass sie sich unter Umständen in Schreien, Schimpfen, Fluchen, Stampfen oder Schlimmerem entlädt. Sind die Gewitterwolken des Ärgers verflogen, bleibt oft nur zerschlagenes Geschirr übrig – im wörtlichen und übertragenen Sinn.
Obwohl in den Details noch ein paar Expertenstreits zu schlichten sind, zeichnet sich eine breit akzeptierte Antwort ab: Dem lieben Frieden zuliebe alles zu schlucken ist genauso wenig empfehlenswert wie dem Ärger freien Lauf zu lassen.
«Wenn mir jemand auf den Fuss tritt, werden eine unmittelbare Erregung und auch Handlungsimpulse geweckt», erklärt die Psychologin Prof. Hannelore Weber, «Ärger entsteht aber erst, wenn ich feststelle, dass der Fusstritt absichtlich geschah». In diesem kognitiven Prozess liegt unsere Chance zur Ärgerbewältigung: Negative Gedanken wie «die Menschen meinen es nicht gut mit mir» oder «ich werde ständig benachteiligt» sorgen für eine erhöhte Ärgerneigung.
Überprüfen Sie den Wahrheitsgehalt derart negativer Interpretationsschlüssel: Wäre es nicht denkbar, dass der Kollege so kurz angebunden war, weil er in Eile war und nicht deswegen, weil er Sie nicht mag? Schon der römische Philosoph Seneca meinte in seinem Werk «De Ira» (Über den Zorn): «Unbefangenheit ist nötig und eine wohlwollende Einschätzung der Dinge.»
Niemand kann vernünftig denken oder gar reden, wenn innerlich der Ärger-Vulkan ausbricht. Tief durchatmen und bis 10, 20 oder 100 zählen – das kann den akuten Ärger zähmen. Klar, dass das Ärgernis damit nicht aus der Welt ist. Aber es zu überwinden, ist der nächste Schritt, für den es Vernunft und Ruhe braucht.
Eine andere Möglichkeit ist, kurz aus der Situation zu gehen und dort vor sich hinzuschimpfen. Achten Sie aber darauf, dass Sie wirklich allein sind. Nehmen Sie ein Blatt Papier und formulieren Sie Ihren Ärger. Da das Papier nur für Sie bestimmt ist, dürfen Sie auch Schimpfwörter verwenden, falls Ihnen danach ist. Haben Sie öfter mit Ärger-Situationen zu tun, führen Sie zur eigenen Kontrolle ein Tagebuch, es kann helfen, einen klareren Blick zu gewinnen und zu verstehen, was einen auf die Palme treibt.
Ist der erste Ärger verraucht, sprechen Sie über Ihre Empfindungen, ohne den anderen anzuklagen.
Atmungs- und Entspannungstechniken können zu einer gewissen Grundruhe verhelfen, das Leben leichter machen und der Seele Frieden schenken. Auch massvolle sportliche Betätigung hilft, den alltäglichen Ärger zu bewältigen. Wer mit seinem Ärger allein nicht fertig wird (und womöglich deswegen unter körperlichen Beschwerden leidet), findet Hilfe bei Fachpsychologen für Psychotherapie (in D: psychologische Psychotherapeuten). Sie können mit entsprechenden Zusatzversicherungen bzw. den Krankenkassen abrechnen.
Heisst das nun, wir sollten uns in ein emotionales Gefängnis sperren und so wenig Gefühle wie möglich zeigen? Cool bleiben, egal was passiert? Wäre es nicht ärgerlich, wenn uns gar nichts mehr aus der Ruhe bringen könnte?
Ärger ist auch ein Motor, der Veränderungen zum Positiven in Gang setzen kann. Wird die Wut begleitet von dem Bemühen um einen angemessenen Ausdruck und problemorientiertes Handeln, kann sie absolut konstruktiv sein. Ärger kann uns die Energie geben, gegen Ungerechtigkeiten anzugehen oder schiefe Beziehungen geradezurücken und Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Wenn etwa ständig auf Kosten einer bestimmten Kollegin im Betrieb Witze gemacht werden; wenn ein Baby ignoriert wird, weil es mit seinem Weinen die Eltern ja sowieso nur ärgern will; wenn Behinderte benachteiligt werden; wenn ein Partner sich alles herausnehmen darf und der andere nichts recht machen kann – dann ist Ärger berechtigt, Aufregung angebracht und verantwortliches Handeln gefragt.
Wer sich nie über etwas aufregt, muss ein Narr sein, vermutete schon der griechische Philosoph Aristoteles vor mehr als 2000 Jahren. Aber er wusste auch: «Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Mass, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.»