Extremmeinungen, viel Halbwissen und jeder Zweite ein Ernährungscoach: Kaum ein Thema des täglichen Lebens scheidet die Geister so sehr wie «gesunde Ernährung». Dennoch schaffen es immer mehr (chronisch kranke) Patienten, mithilfe der modernen Ernährungsmedizin gesund zu werden.
Autorin: Petra Horat Gutmann, GN 03.18
Hildegard Weingartner aus dem freiburgischen Cordast staunte nicht schlecht, als ihr rechter Arm nach der Geburt des zweiten Kindes dick anschwoll und heftig schmerzte. Wenige Tage später geht die 33-Jährige zum Hausarzt. Dieser stellt fest: «Sie haben chronische Polyarthritis».
Das verordnete Kortison hilft eine Weile, dann kehren die Schwellungen und Schmerzen zurück, diesmal auch an den Händen, Fingern und an der Hüfte. Die Mutter von drei Kindern kann fast nicht mehr ohne Schmerzen gehen, die Hausarbeit wird mühsam. Der Arzt verschreibt erneut Medikamente. Diese schluckt die junge Frau fast fünf Jahre lang, bis sie eines Tages bemerkt: «Die Medikamente verursachen Magenbeschwerden und gesünder werde ich auch nicht! Ich muss mir wohl selber helfen.»
Statt zu weiteren Ärzten geht sie in die nächste Buchhandlung und kauft dort das «Handbuch für Rheuma- und Arthritiskranke» von Dr. med. Maximilian Bircher-Benner. Was da steht, muss Hildegard Weingartner erst einmal verdauen: «Das klingt so anders als das, was die meisten Ärzte über Rheuma sagen!»
Trotzdem beschliesst sie, das Gelesene zu testen: Sechs Wochen lang kein Fleisch und keine rasch verdaulichen Kohlenhydrate, dafür täglich viel mild gewürztes Gemüse, aromatische Gartenkräuter, Salat mit Olivenöl und einem Schuss Zitronensaft, vorwiegend einheimische Früchte, Mandeln, Nüsse und als Eiweissquelle Quark.
Um die ungewohnte Kost «zu überstehen», gönnt sie sich ab und zu etwas Milch und einen Riegel Schokolade. Ergebnis nach sechs Wochen: «Die Magenbeschwerden sind weg und ich fühle mich viel vitaler», stellt Hildegard Weingartner fest und führt das Experiment weiter. Mit der Folge, dass ihre rheumatischen Beschwerden samt Schmerzen allmählich «komplett verschwinden» und keine Medikamente mehr nötig sind.
Das Beispiel der Freiburgerin hat Nachahmungspotenzial, umso mehr, als die Behandlung rheumatischer Erkrankungen jedes Jahr Milliarden Franken Steuergelder verschlingt. Fachleute unterstreichen, dass nicht nur das Gros der rheumatischen Erkrankungen, sondern «50 bis 70 Prozent aller Erkrankungen» ernährungsbedingt bzw. -mitbedingt seien. Falls das stimmt, wie kommt es dann, dass nur die wenigsten Patienten eine Ernährungstherapie absolvieren?
«Wir gehen in der Schulmedizin nicht bis zu den Ursachen, sondern nur bis zu einer Diagnose, die meist ein reiner Symptombeschrieb ist», sagt Dr. med. Andres Bircher, Leiter des Medizinischen Zentrums Bircher-Benner in Braunwald bei Glarus. «Vom Beschrieb der Symptome geht es gleich weiter zu den Medikamenten, welche die lästigen Krankheitssymptome unterdrücken. Doch die reine Symptomunterdrückung richtet sich gegen die Lebens- und Heilungskraft des Organismus. Dadurch werden die Krankheiten chronisch.»
Der Enkel von Maximilian Bircher-Benner weiss, wovon er spricht: Andres Bircher hat Tausenden von Patienten mit Ernährungsmedizin und naturheilkundlichen Massnahmen geholfen. Das können nur wenige Ärzte von sich behaupten. Aus gutem Grund: Im Medizinstudium wird die Ernährungstherapie nur flüchtig gestreift. Nach dem Studium interessieren sich die wenigsten für eine ernährungsmedizinische Zusatzausbildung, eine Fachrichtung Ernährungsmedizin gibt es in der Schweiz nicht.
Dabei wäre profundes Wissen um die Wirkung der Ernährung enorm wichtig. «Wo dieses Wissen fehlt, bleibt den Patienten eine wichtige, natürliche Behandlungsmöglichkeit vorenthalten», sagt der deutsche Ernährungsmediziner Dr. med. Matthias Riedl.
Der Hamburger kämpft seit 20 Jahren für die Anerkennung der Ernährungsmedizin. «Früher wurde meine Arbeit als Scharlatanerie bezeichnet. Die Kunden wagten nicht, dem Hausarzt zu sagen, dass sie bei mir waren», erinnert sich der 55-Jährige. «Wenn ich beispielsweise zu einem Kardiologen sagte, dass wir mit der Ernährung die Blutfettwerte verbessern können, bekam ich zu hören: ‹Quatsch! Sie überfordern die Patienten!›» Erst seit einigen Jahren kämen zunehmend Ärzte mit dem Wunsch, mehr über Ernährungstherapie zu erfahren, weil sie ohne nicht mehr weiterkommen.
Tatsächlich hat sich im nördlichen Nachbarland bereits einiges getan: So können Ärzte etwa an der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin eine berufsbegleitende Ausbildung zum Ernährungsmediziner absolvieren, eine bundesweit anerkannte Qualifikation. Rund 6000 praktizierende Ärzte haben die Ausbildung bis anhin besucht. Einziger Wermutstropfen: Die ernährungsmedizinische Beratung kann zurzeit noch nicht zufriedenstellend über die Krankenkassen abgerechnet werden. Die Kassen zahlen nichts, und trotzdem suchen immer mehr ratlose Patienten Hilfe bei den deutschen «Ernährungs-Docs», zu deren bekanntesten Vertretern die Fachärzte Matthias Riedl, Anne Fleck und Jörn Klasen zählen. Die drei Ernährungsprofis machen Nägel mit Köpfen: Seit über drei Jahren zeigen sie in einer Dokumentarsendung des Norddeutschen Fernsehens, wie sie Menschen mit massiven Gesundheitsproblemen dank speziellem Essen mehr helfen als mit Tabletten – oft innert weniger Monate. Und über eine Million Zuschauer verfolgen am Bildschirm, wie solche «Wunder» möglich werden – vom ersten Besuch in der Hamburger Hausboot-Praxis über die Auswertung der Ernährungsgewohnheiten und den Behandlungsplan bis zum Therapieerfolg. (Alle Folgen sind in der Mediathek des NDR abrufbar.)
Dabei erfahren die Zuschauer auch, was zwingend zu einer ernährungsmedizinischen Behandlung gehört, beispielsweise, dass «der Patient mitarbeiten muss, ohne ihn geht es nicht», unterstreicht Riedl. Das bedeutet für die meisten Betroffenen: alte Gewohnheiten ablegen! Keine einfache Aufgabe, doch gemäss Matthias Riedl führt eine «Politik der kleinen Schritte» meist zum Erfolg: «Früher wurde einem gesagt, wie man essen muss. Heute brechen wir die Regeln auf den Patienten runter. Auch wenn der Patient nur zehn bis 20 Prozent seiner Essgewohnheiten ändert, bringt das bereits einen messbaren Erfolg. Das weckt Freude und die Bereitschaft, sich auf weitere Veränderungen einzulassen.»
So geschehen beispielsweise bei der neunjährigen Merle Harbers aus Lilienthal. Ihre Mutter brachte die Kleine, die zweimal täglich Kortisonsalbe einstreichen musste, zu den Hamburger Ernährungsmedizinern. Dort lernten Mutter und Tochter, welche Lebensmittel die Neurodermitisschübe auslösen und wie sich der Stress der Haut von innen her mit den richtigen Nahrungsmitteln lindern lässt. Zum Beispiel mit einem täglich genossenen Smoothie aus Banane, Avocado, Rande (Roter Bete), Honig, Ingwer und Kokosmilch.
Die Folge der Ernährungsanpassung nach fünf Monaten: Merles Hautbild hat sich stark gebessert, die Neurodermitis ist am Abheilen.
Auch immer mehr männliche Patienten suchen in ihrer Not Hilfe bei den Ernährungsmedizinern. Da ist zum Beispiel Christoph Freiburger. In der Praxis der Ernährungs-Docs erfährt der 150 Kilo-Mann, wie er seinen «Fressattacken» entgegenwirken kann. Der Verkaufsleiter beherzigt die Tipps und Tricks der Profis, er optimiert seine Ernährungsweise, gönnt sich aber trotzdem weiterhin ab und zu ein wenig Schokolade. Ergebnis nach fünf Monaten: Christoph Freiburger hat 17 Kilo weniger auf den Rippen, der hohe Entzündungswert im Blut, den das Bauchfett verursacht hatte, ist dramatisch gesunken und «nebenbei» hat sich auch die Schlafapnoe stark gebessert. Der 48-Jährige ist begeistert: «Das Ganze hat sich in jedem Fall gelohnt!»
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Grosse epidemiologische Studien belegen den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung. Im Praxisalltag zeigt sich, dass die Ernährungsmedizin tatsächlich bei den meisten Zivilisationserkrankungen eine sinnvolle Behandlungsoption darstellt. Dabei spielt auch das «Wie» der Ernährung eine Rolle. Ernährungs-Doc Jörn Klasen sagt in diesem Zusammenhang: «Ich sehe zu viele Menschen, die ihre Nahrung hektisch zwischen Tür und Angel zu sich nehmen. Verdauung bezieht sich nicht nur auf unsere Lebensmittel. Wir machen im Seelischen die gleichen Fehler wie mit der Ernährung.»
Letzteres ist auch der Grund für die therapieresistenten Fälle, denen die Ernährungs-Docs ab und zu begegnen. «In solchen Fällen raten wir dem Patienten, sich von einem Psychologen Tipps und Tricks geben zu lassen», sagt Matthias Riedl. «Das hilft praktisch immer, denn Körper und Seele sind eine Einheit.»
In Deutschland gibt es mittlerweile rund 100 akkreditierte Schwerpunktpraxen Ernährungsmedizin. Anders in der Schweiz: Wer einen erfahrenen Ernährungsmediziner finden will, sucht oft lange. Die wenigen, die es gibt, sind meist in Kliniken und an Spitälern tätig, in der Regel mit dem Fokus der «Klinischen Ernährung», also der Behandlung von Pathologien wie zum Beispiel Mangelzuständen. Andere arbeiten vor allem mit hochdosierten orthomolekularen Präparaten.
Kommt hinzu, dass die wenigsten Patienten die Vorteile einer professionellen Ernährungstherapie und die langfristigen Nachteile einer Medikamenteneinnahme angemessen abwägen können. Gewählt wird meist, was einfacher bzw. bequemer erscheint – also fast immer das Medikament statt die enge Zusammenarbeit mit einem Ernährungs-Doc oder einer Ernährungsberaterin.
Überdies wird die Arbeit der Ernährungsfachleute auch durch die Nahrungs- und Genussmittelindustrie behindert, wie jeder Besuch im nächsten Supermarkt zeigt. Darum fordern Ernährungsmediziner dringend ernährungspolitische Reformen. Etwa den Wegfall der Mehrwertsteuer auf Früchte und Gemüse bei gleichzeitiger Anhebung der Steuer für ungesunde Produkte mit viel zugesetztem Zucker oder Fett. Dass Steueranpassungen tatsächlich dazu beitragen können, die Bürger vor gesundheitlichen Schäden zu schützen, beweisen Studien und Erfahrungen aus anderen Ländern, die aus ihren Fehlern bereits gelernt haben.
50 bis 70 Prozent aller Erkrankungen werden durch die (falsche) Ernährung (mit-)verursacht, sagen Fachleute. Dazu zählen: Adipositas, Allergien, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Gicht, Hautkrankheiten wie Akne, Neurodermitis und Ekzem, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Sprue, Pankreaserkrankungen, Reflux, rheumatischer Formenkreis, z.B. rheumatoide Arthritis, Arthritis psoriatica und Fibromyalgie, degenerative Gelenkerkrankungen wie Arthrose, Wirbelsäulen-Syndrom u.a.
Adressen von ernährungsmedizinisch offenen (Natur-)Ärzten erhältlich über:
www.swissveg.ch/experte
Vom Hausarzt können Sie sich an die Ernährungsberatung eines Kantonsspitals oder einer Universitätsklinik überweisen lassen.
Adressliste von qualifizierten ErnährungsberaterInnen:
Schweizerische Gesellschaft für Ernährung
Tel. 031 385 00 00, www.sge-ssn.ch
Adressen von Schwerpunkt-Praxen Ernährungsmedizin:
Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner
Tel. (0049) 0201 799 89 311, www.bdem.de
Adressen von qualifizierten ErnährungsberaterInnen:
Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband VDD
Tel. (0040) 0201 94 68 53 70, www.vdd.de