100 Jahre Naturärzte Vereinigung der Schweiz (NVS): Das ist nicht einfach irgendein Jubiläum, das ist ein Meilenstein in der Geschichte der Naturheilkunde der Schweiz und ohne die Ursprünge im Appenzell Ausserrhoden nicht denkbar. Hans-Peter Studer zeigt das eindrucksvolle und ungeschönte Auf und Ab des NVS in seinem Buch "Mehr als Medizin".
In Appenzell Ausserrhoden verankerte die Landgemeinde 1871 gegen den Willen der Regierung den Grundsatz der freien Heiltätigkeit in der Kantonsverfassung. Welchen Eigensinn, wie viel Überzeugungskraft, Beharrlichkeit und Kampfeswille die heiltätigen Männer und (anfangs wenigen) Frauen mitbringen mussten, damit die sogenannte Kurierfreiheit erhalten blieb und Naturheilkundige nicht samt und sonders als Kurpfuscher und Scharlatane geschmäht wurden, davon berichtet Hans-Peter Studer in seinem Buch „Mehr als Medizin". Mit ungeheurer Akribie begibt sich der Autor auf den steinigen Weg zur Anerkennung der Naturheilkunde – beeindruckend, was Studer an Quellen zutagefördert und wie detailfreudig er das Geschehen von vor hundert Jahren bis heute nachvollziehbar werden lässt.
Die frühen Botschafter der freien Heiltätigkeit waren Menschen mit Ecken und Kanten – und die Bildung eines Verbandes entsprechend ein mühseliges Unterfangen. Studer beleuchtet sachlich und ganz offen auch Neid, Missgunst und Gereiztheiten, die der gemeinsamen Sache häufig im Wege standen. Das macht das Buch zu einer lebendigen Lektüre, die viel vom Zeitgeist jener Pioniertage atmet.
Was die NVS immer wieder nach vorne brachte, sei es in puncto Anerkennung oder hinsichtlich Mitgliederzuwachs, waren die Fachfortbildungskurse und die Initiierung von Verbandsprüfungen. Hier kommt auch Alfred Vogel ins Spiel: 1933, als die Prüfungskommission neu bestellt wurde, wählte man den damals 30-Jährigen zum neuen Kursleiter. Alfred Vogel leitete zu jener Zeit die Reformhaus-Gesellschaft Speicher, Genossenschaft für zeitgemässe Ernährung und Körperpflege. Studer würdigt im Buch die agile berufliche Laufbahn Alfred Vogels, der nicht zuletzt durch sein 1952 publiziertes Buch „Der kleine Doktor" zu einem der wichtigsten und bekanntesten Naturärzte der Schweiz wurde. Als Vortragsredner zu Ernährungsthemen war Alfred Vogel bei seinen Verbandskollegen sehr geschätzt. Seinen Rücktritt aus dem Vorstand musste er allerdings bereits 1934 bekanntgeben, „vermutlich wegen Arbeitsüberlastung beim Aufbau seines neuen Unternehmens", schreibt Studer.
Es werden Fachorgane und Mitteilungsblätter gegründet, es gibt viel Tauziehen um Statuten, die studierte und etablierte Ärzteschaft sorgt immer wieder für gehörig Gegenwind, Gesetzgebungen drängen die freie Heilkunde stets aufs Neue in die Ecke: Es ist ein ungeheures Auf und Ab in diesen 100 Jahren. Bestrebungen, die Naturheilkunde zu diskreditieren, flammen regelmässig auf und machen den Naturärzten das Leben schwer. Manches, wovon Studer berichtet (z.B. Razzien!) mutet aus heutiger Sicht ungeheuerlich an. Umso bemerkenswerter ist es, dass es dennoch gelingt, die Verbandsarbeit zu professionalisieren, Krankenkassenanerkennungen zu erreichen und sogar eine eigene Schule zu gründen.
Dass es schliesslich 2009 zum „Ja zur Komplementärmedizin" kommt, Volk und Stände den neuen Verfassungsartikel zur Berücksichtigung der Komplementärmedizin deutlich angenommen haben, ist ein grosser Erfolg. Und keinesfalls selbstverständlich für die NVS, die diese Initiative anfangs gar nicht unterstützte.
Hans-Peter Studer legt eine ungeschönte Geschichte der NVS vor – das macht dieses Buch so spannend und lesenswert. Man lernt zu schätzen, was heute selbstverständlich scheint: Dass jede/r von uns die Wahl hat, sich zwischen Heilmethoden und Anbietern zu entscheiden, dass es eine professionelle und breit aufgestellte Naturheilkunde gibt, die einen immensen Anteil am gesundheitlichen Wohl derer hat, die auf sie vertrauen.
Hans-Peter Studer
Mehr als Medizin. 100 Jahre NVS - der lange Weg zur Anerkennung der Naturheilkunde
Appenzeller Verlag (2020), 272 Seiten
ISBN 978-3-85882-835-4