Die Pensionierung stellt nicht nur den gewohnten Alltag auf den Kopf, auch das eigene Selbstverständnis muss neu definiert werden. Mit umsichtiger Vorbereitung wird der neue Lebensabschnitt zu einer Phase voller bereichernder Erfahrungen.
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Für viele Menschen bringt die Pensionierung neue Freiheiten mit sich. Doch nicht immer erfüllen sich die Erwartungen. Dies weiss Yvonne Tiefenthaler aus eigener Erfahrung. Jahrzehntelang arbeitete sie in einer Schweizer Grossbank als Sachbearbeiterin.
«Ich freute mich darauf, endlich nicht mehr fremdbestimmt zu sein.» Wenige Monate nach ihrer Pensionierung machte sich Ernüchterung breit: «Ich ertappte mich immer öfter dabei, wie ich in meiner Wohnung planlos herumtrödelte. Abends fragte ich mich, was ich den ganzen Tag über eigentlich gemacht hatte.» Vor der Pensionierung hatte Yvonne voller Vorfreude eine Liste mit Ausflügen, Ausstellungsbesuchen und Wanderungen angelegt. Monate später stellte sie fest, dass kaum ein Punkt abgehakt war. «Allein etwas zu unternehmen macht einfach keinen Spass», bilanziert die Singlefrau.
Einige ihrer Bekannten sind noch im Arbeitsprozess, können sie daher kaum begleiten. Andere sind zeitlich mit dem Hüten der Enkel gebunden. Nun hat sich Yvonne Tiefenthaler für die Mitgliedschaft in einem Freizeitclub für über Fünfzigjährige angemeldet. «Wenn ich an fix organisierten Veranstaltungen teilnehme, laufe ich weniger Gefahr, ziellos herumzutrödeln. Hoffentlich lerne ich dort Menschen kennen, mit denen ich auch ausserhalb der Clubanlässe etwas unternehmen kann.»
Dass die Erwartungen an die Zeit nach der Pensionierung und die Realität auseinanderklaffen, erfahren viele Menschen im Ruhestand. Im Extremfall verwandelt sich Euphorie in Frustration und Niedergeschlagenheit. Wer sich dagegen rechtzeitig und umfassend auf die kommenden Veränderungen vorbereitet, schafft den Übergang ohne Achterbahnfahrt der Stimmungen.
Autor: Adrian Zeller, 10/15
Das Ende der Erwerbstätigkeit stellt vieles auf den Kopf. Es ist ähnlich einschneidend wie der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben während der Pubertät. In der Vorbereitungsphase zur Volljährigkeit schmieden viele junge Menschen idealistische Pläne, die später von der Wirklichkeit zerzaust werden.
Mit dem Erwachsenwerden wie auch mit der Pensionierung betritt man unbekanntes Terrain, mit dem man sich allmählich vertraut machen muss. Ohne behutsames Vortasten und Ausprobieren klappt es kaum. In den Übergängen in die neuen Lebensstadien fallen vertraute Leitplanken weg, die jahrelang Orientierung und Sicherheit vermittelt haben. Der Alltag muss neu organisiert werden; zwischenmenschliche Beziehungen verändern sich; die vertrauten Arbeitskollegen machen ohne einen weiter; man ist nicht mehr gefragt in der Arbeitswelt.
Das Selbstverständnis muss angepasst werden, Rolle und Stellung in der Gesellschaft werden neu definiert, man gehört jetzt zur grossen Masse der Rentner. Manche Menschen brauchen Zeit, um sich mit dieser neuen Situation anzufreunden.
Anselm Grün, Autor von Lebenshilfebüchern, schreibt dazu in seiner Publikation «Gelassen älter werden», für Männer sei die Pensionierung oft (noch) ein stärkerer Einschnitt als für Frauen. Sie hätten sich zu lange über den Beruf definiert. «Jetzt werden sie nicht mehr gefragt. Sie haben die Rollen verloren, die sie im Berufsleben gespielt haben.» Sie waren Abteilungsleiter oder Vorarbeiter. «Sie galten etwas.» Jetzt müssen sie ihre Identität jenseits der Rolle finden. «Sie als Menschen sind gefragt, mit ihrer Lebenserfahrung, aber vor allem mit ihrem Charakter. Jetzt muss sich zeigen, welche Person hinter der Rolle hervorkommt.»
Ein locker strukturierter Tages- und Wochenplan hilft, insbesondere in den ersten Monaten, sich nicht in unbefriedigendem Herumtrödeln zu verlieren oder sich stundenlang vom Fernsehen berieseln zu lassen. Andernfalls kann ständige Unzufriedenheit zum heimtückischen Zündstoff in der Partnerschaft, in der Familie und in der Nachbarschaft werden.
Im dritten Lebensabschnitt bekommt die Musse einen weit höheren Stellenwert als in den Jahren zuvor. Der angemessene Umgang mit ihr fällt niemandem in den Schoss; er muss ausprobiert und eingeübt werden. Wer jahrzehntelang im Beruf Verantwortung getragen hat, unter ständigem Termindruck stand und ein enges Finanzbudget einhalten musste, kann kaum von einem Tag auf den anderen genüsslich seine Passionen pflegen und dabei die Zeit vergessen.
Immerhin muss man nach der Pensionierung den Übergang von der Fremd- zur Selbstbestimmung schaffen. In einer Gesellschaft in der Leistung, Erfolg und Prestige in der Werteskala in den obersten Rängen platziert sind, fällt es nicht leicht, plötzlich einige Gänge herunterzuschalten. Wo das enge Zeit- und Aufgabenkorsett der Arbeitswelt abgelegt wird, muss man sich behutsam an die veränderte Situation gewöhnen.
Anselm Grün formuliert es in «Die hohe Kunst des Älterwerdens» so: «Gelassenheit braucht Zeit. Sie verträgt keine Hektik. Ich muss mir Zeit lassen, um gelassen bei den Dingen zu sein. Ich brauche Zeit, um mich auf ein Gespräch oder eine Begegnung einzulassen. Sich Zeit lassen ist das Gegenteil von Zeit ausnutzen und sich vom Termindruck bestimmen zu lassen. Indem ich mir Zeit lasse, breche ich aus der Herrschaft der Zeit aus.»
Ein Patentrezept dafür, wie man die Weichen für den Weg in den dritten Lebensabschnitt richtig stellt kann niemand geben – zu unterschiedlich sind die Menschen und ihre Lebenssituationen in der pluralistischen Gesellschaft. Doch es gibt einige Wegmarken, die Orientierung vermitteln. Die Sozialwissenschaften beschreiben «Grundcharaktere» im dritten Lebensabschnitt – in der männlichen Form, natürlich trifft man auch ihre weibliche Entsprechung.
Dem «Entdecker» steht der Sinn nach Reisen, er will Länder und Städte erkunden. Neue Eindrücke und Erlebnisse sind ihm wichtig.
Der «Selbstverwirklicher» ist in der Seniorenuni, an Volkshochschulkursen und Exkursionen anzutreffen. Dort will er seinen Horizont erweitern, neue Kompetenzen und neues Wissen erwerben.
Der «Bastler» seinerseits errichtet im Garten ein Biotop, restauriert seinen Oldtimer oder gestaltet geschmackvolle Dekorationen.
Der «Geniesser» setzt lieber auf Messer und Gabel als auf Schleifmaschine und Gartenschere. Er liebt Genüsse und auch die Geselligkeit; Gourmetreisen, Brauereibesuche und Weinverkostungen lassen sein Herz höher schlagen.
Spätestens ein Jahr vor der Pensionierung muss man sich konkrete Gedanken über die Gestaltung des künftigen Lebensabschnitts machen. Mit der obigen kleinen Typologie lassen sich die eigenen Bedürfnisse besser eingrenzen. In einer ruhigen Stunde sollte man mit sich selbst ein schriftliches «Brainstorming», eine Ideensammlung, durchführen, um Inhalte und anregende Beschäftigungen im Alter zu finden.
Die Palette an Beschäftigungen ist äusserst vielfältig: Sie reicht von Mentoring für Jugendliche auf dem Weg in die Berufswelt über Mitarbeit in Pflegeinitiativen für Naturschutzgebiete bis zum Musizieren im Seniorenorchester – um nur einige Beispiele zu nennen.
Zu bedenken gilt, dass man mit dem Ende der Erwerbsphase auch den regelmässigen Kontakt zu Arbeitskolleginnen, Kunden oder Lieferanten verliert. Künftige Beschäftigungen sollten das Knüpfen von neuen Kontakten begünstigen. Aktivitäten geben dem Alltag nicht nur Sinn und Inhalt, sie vermitteln auch Impulse für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Der Mensch fühlt in sich selbst ein Ich, das seine Identität ausmacht. Doch ist diese keine statische Einheit, sondern be-steht aus zahlreichen flexiblen Facetten.
Beispielsweise kann ein für seine konsequente Prinzipientreue bekannter Beamter als Opa beim Spielen mit seinem kleinen Enkel die Toleranz und Nachsicht in Person sein. Für die Zeit nach der Pensionierung bedeutet das, dass man auch andere Saiten zum Klingen und brachliegendes Potenzial zur Entfaltung bringen kann.
Jedes Lebensjahrzehnt stellt seine eigenen Themen und Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Diese wiederum regen das Persönlichkeitswachstum an. Die Psychologen Henny Nordholt und Michael Mary beschreiben das Lebensjahrzent, in dem die meisten Menschen in Rente gehen, als Spanne, in der man den Anschluss an die Zeit, die Entwicklungsphasen der Kindheit sucht.
«Die Abrundung des Lebens älterer Menschen geschieht dort, wo das Leben einst begann: in der Gefühlswelt. Während die Welt des Kindes von Gefühlen bestimmt war, blieb dem Erwachsenen nur eingeschränkt Platz für Gefühle. Jetzt aber, da er nichts Wichtiges in der Welt mehr zu erledigen hat, kann der Mensch zu seinen Gefühlen zurückkehren.» Der Mensch ab 60 komme wieder in Kontakt mit seinem inneren Kind, so Nordholt und Mary.
Diese Abrundung der menschlichen Entwicklung kann sich unterschiedlich manifestieren. Roswitha Manser hat auf ihre Weise den Brückenschlag zu ihren Anfängen geschafft. «Mit speziellen Stoffen zu arbeiten bereitet mir grosse Freude», erzählt die 66-Jährige. Gerne wäre sie Textildesignerin geworden, doch ihre Eltern forderten eine Ausbildung in einem krisensicheren Beruf. Sie könne sich ja anschliessend in der Modebranche ausbilden lassen.
Es kam anders. Kurz nach dem Abschluss ihrer Lehre als kaufmännische Angestellte wurde sie ungeplant schwanger. Das Familienglück zerbrach nach wenigen Jahren; alleinerziehend verdiente sich Roswitha ihren Lebensunterhalt als Bürokraft bei einer Behörde. Die Faszination für Textilien begleitete sie jedoch all die Jahre hindurch; Stoffläden waren für sie stets so etwas wie Oasen. Nach der Pensionierung hat sie endlich genügend Zeit, all ihre Ideen für Kleider Wirklichkeit werden zu lassen.
Die 46-jährige Monika Steiger hat bei ihrem Vater nach seiner Pensionierung eine deutliche Veränderung festgestellt: «Plötzlich konnte er mich in den Arm nehmen und drücken. Dies habe ich früher nie erlebt.» In rührenden Momenten habe sie auch feuchte Augen bei ihm bemerkt. «Für mich war er stets der kühl kalkulierende Geschäftsmann, der kaum Gefühlsregungen zeigte.» Nachdem er seine Stellung altershalber aufgegeben habe, sei er weicher und herzlicher geworden. «Wie er mir erzählte, war er als Kind sehr sensibel. Das spätere Arbeitsleben habe ihn gelehrt, dass man nur mit einer gewissen Härte auf einen grünen Zweig komme.»
Auch Horst Brückemann hat einen Weg zu den ersten Jahren seines Lebens gefunden. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Krieg verschlug es ihn und seine Familie in den Norden Deutschlands. Dort erklomm er die Karriereleiter und gründete eine Familie. Im Alter zieht es ihn nun öfters wieder in die Gegend seiner Kindheit. Gemeinsam mit seiner Frau wandert er in seiner Heimatregion in Süddeutschland entlang von Bachläufen und auf Waldwegen. «Vieles hat sich hier in den Jahren verändert, aber einige Stellen, an denen ich als Kind gespielt habe, sind noch auffindbar.»
Das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bedeutet auch für die Partnerschaft eine Herausforderung. Experten raten Paaren, sich im dritten Lebensabschnitt gegenseitig genügend zeitliche und persönliche Freiräume zu lassen. Verantwortlichkeiten und Aufgaben im Haushalt sollten verbindlich geregelt werden.